125 Jahre sozialer Wohnungsbau in Leipzig
Die Stiftung Meyer´sche Häuser

- Meyer´sche Häuser in Leipzig-Eutritzsch
- Foto: Gancho, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8339661
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Sozialer Wohnungsbau – das heißt in erster Linie bezahlbarer Wohnraum für Bevölkerungsgruppen, die monatlich unterdurchschnittlich wenig Geld zum Leben haben. Heutzutage ist es eine – bundesweit leider bitter vernachlässigte – staatliche Sozial-Angelegenheit.
Der nachhaltige Anfang des sozialen Wohnungsbaus in Leipzig beruht auf privater Initiative: Er geht zurück auf einen christlich geprägten Verleger, der für seine nachhaltigen Aktivitäten einen Architekten engagierte. Die Miete für eine Wohnung in den sogenannten "Meyer´schen Häusern" betrug damals 15 Prozent (!) des jeweiligen Haushalts-Einkommens.
Situation in Berlin
„Man kann mit einer Wohnung einen Mensch genau so gut töten wie mit einer Axt!“ Dieses Zitat – fälschlicherweise dem Milieu-Zeichner Heinrich Zille (1858–1929) zugeschrieben – ist sicher zugespitzt formuliert, doch wohl nur leicht übertrieben. Zille hielt in vielen seiner Zeichnungen das Wohnelend im Berlin seiner Zeit fest. Seine Milieu-Skizzen sind Zeitzeugnisse von nahezu dokumentarfotografischer Qualität.
Im 19. Jahrhundert sind in Großstädten wie Berlin die Wohnbedingungen krass: Den Ärmsten der Armen fehlt bezahlbarer Wohnraum, für Handwerker und Leute im unteren Mittelstand ist finanziell das Leben „auf Kante genäht“: Steigende Preise für Grund und Boden machen das Wohnen in den eigenen vier Wänden für viele Menschen unerschwinglich, Spekulantentum nutzt die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage: Was nur irgend möglich scheint, wird als Wohnraum angeboten – selbst feuchte Kellerräume, kalte Dachkammern und düstere Schlupfwinkel. Die für Berlin typischen Mietskasernen entstehen.
Deshalb gründet sich 1852 in Berlin das nach eigenen Angaben älteste soziale Wohnungsunternehmen Deutschlands – die christlich geprägte Alexandra-Stiftung. „Die Stiftung verfolgt in praktischer Ausübung christlicher Nächstenliebe den Zweck, Wohnraum, der nach Größe, Ausstattung, Miete oder Belastung für die breiten Schichten des Volkes bestimmt und geeignet ist, zu errichten und zu angemessenen Preisen zu vermieten“, heißt es in der Satzung.
Situation in Leipzig
Im Leipzig der folgenden Jahrzehnte ist die Situation ähnlich angespannt. Dort fühlt sich deshalb ein vermögender Verleger verpflichtet, nachhaltig etwas zu tun. Und ermöglicht erste Schritte zu dem, was heutzutage sozialer Wohnungsbau heißt und eine staatliche Angelegenheit ist. Für die praktische Umsetzung holt er sich einen Architekten an seine Seite.
Der Verleger Hermann Meyer
Herrmann Julius Meyer (* 4. April 1826 in Gotha) ist der Sohn des Verlagsbuchhändlers Joseph Meyer aus Gotha im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg. Nach der Lehre zum Buchhändler arbeitet er im Verlag seines Vaters, der 1826 als Bibliographisches Institut in Gotha gegründet wird.
Nach der Märzrevolution 1848 flüchtet Herrmann Meyer in die USA. 1849 gründet er in New York eine Zweigniederlassung des Bibliographischen Instituts, die jedoch bereits 1854 liquidiert wird. Nach dem Tod seines Vaters übernimmt er 1856 den wirtschaftlich angeschlagenen, inzwischen in Hildburghausen ansässigen Verlag und konsolidiert ihn.
Besonders erfolgreich sind die seit 1861 herausgegebenen Klassiker-Buchreihen, Meyers Lexikon und das mehrfach neu aufgelegte Buch „Tierleben“ von Alfred Brehm. 1874 verlegt Meyer den Sitz des Bibliographischen Instituts in das Königreich Sachsen – in Leipzigs Vorort Reudnitz (ab 1889 Stadtteil von Leipzig). Dort – im sogenannten Graphischen Viertel in der Leipziger Ostvorstadt – ist er im Zentrum der Buchindustrie und deutschlandweit bedeutender Verlage.
Den väterlichen Verlag hat er als Medienkonzern mit dauerhaft soliden Gewinnen etabliert. 1884 zieht Herrmann Meyer sich aus dem Verlag zurück und übergibt die Geschäftsführung seinen ältesten Söhnen Hans und Arndt.
Dieser clevere Geschäftsmann Herrmann Meyer ist auch ein christlich geprägter Mann mit sozialem Gewissen. Das beweist er, als er 1888 in Leipzig den „Verein zur Erbauung billiger Wohnungen“ gründet. Den wandelt er am 3. April 1900 um in die „Stiftung zur Erbauung billiger Wohnungen“ – die besteht bis heute und ist bekannt als „Stiftung Meyer’sche Häuser“.
Die Stiftung des Herrmann Meyer errichtet zwischen 1887 und 1937 vier damals sogenannte Wohnkolonien mit insgesamt rund 2700 Wohnungen in Leipzigs Stadtteilen Lindenau, Eutritzsch, Reudnitz und Kleinzschocher. Meyer beauftragt den befreundeten Architekten Max Pommer mit Erwerb, Planung und Bebauung der Grundstücke.
Wie nachhaltig Meyers soziales Engagement ist, belegt dies: Er stellt seiner Wohnungsbau-Stiftung immer wieder bis zum Lebensende reichlich Kapital aus seinem Privatvermögen zur Verfügung – die für die damalige Zeit außerordentlich hohe Gesamtsumme beträgt sieben Millionen Mark.
Herrmann Meyer stirbt am 12. März 1909 in Leipzig und wird auf Leipzigs Südfriedhof (III. Abteilung) begraben. Sein Grabmal gestaltet – wie könnte es anders sein – sein enger Freund Max Pommer.
In ehrendem Gedenken stiften ihm 1909 die Bewohner der Kolonie Reudnitz eine Gedenktafel, und 1928 wird eine Straße in der Kolonie Kleinzschocher Herrmann-Meyer-Straße genannt.
Zudem ehrt der Volksmund mit der Bezeichnung „Meyersdorf“ für dessen Kolonie Kleinzschocher den Gründer und Finanzier des Wohnviertels, Herrmann Julius Meyer – Jahrzehnte zuvor Gründervater des sozialen Wohnungsbaus in Leipzig.
Der Architekt Max Pommer
Max Pommer (* 4. April 1847 in Chemnitz; † 5. Juli 1915 in Leipzig), ein deutscher Architekt und Bauunternehmer, gilt als ein Pionier des Stahlbetonbaus in Deutschland.
Pommers Zusammenarbeit mit dem Verleger Hermann Julius Meyer, aus der eine jahrzehntelange Freundschaft wird, beginnt im Jahre 1872: Er übernimmt für das Architekturbüro Gustav Müller die Bauleitung für Meyers erste Verleger-Villa in der heutigen Käthe-Kollwitz-Straße 82. In der Folge übernimmt Pommer immer wieder Bau-Aufträge für Meyer und entwickelt mit ihm gemeinsam Bauprojekte, die sie finanzieren und später verkaufen.
Im Jahre 1883 kauft er im Auftrag von Herrmann Julius Meyer ein Grundstück in der Plagwitzer Straße 55 (heute Käthe-KollwitzStraße 115 in Leipzig) und errichtet dort in den Jahren 1885/1886 für den Verleger die zweite Meyer-Villa. Im Laufe der Jahrzehnte folgen zwei weitere Meyer-Villen.
Max Pommers damals gegründetes Unternehmen in Leipzig besteht bis heute: Geschäftsführer von „Pommer Spezialbetonbau“ ist dessen Urenkel Michael Pommer.
Die Meyer´schen Häuser
Bekannt wird der Architekt Max Pommer vor allem mit den ab 1887 für die von Herrmann Julius Meyer ins Leben gerufene „Stiftung zur Erbauung billiger Wohnungen“ entworfenen Kolonien Lindenau, Eutritzsch, Reudnitz und Kleinzschocher – den Meyer’schen Häusern:
1887 beginnt Pommer mit dem Bau der ersten Kolonie in Lindenau auf dem Areal Demmeringstraße 8–10, Erich-Köhn-Straße 17–39, Hahnemannstraße 6–28 und 15–21, Henricistraße 25b–53, Rietschelstraße 22 sowie Roßmarktstraße 5–7 und 6–8.
Bis 1892 werden dort 35 Häuser errichtet, bis 1896 weitere 17. Es folgen die Kolonien Meyerscher Häuser in Eutritzsch (1899–1901), in Reudnitz (1903–1908) sowie in Kleinzschocher (1907–1937). Alle Wohnungen hell und zweckmäßig, viele haben – für damalige Verhältnisse sehr fortschrittlich – einen Balkon.
Die tatsächlich einzigartige Besonderheit der Meyerschen Häuser: Die Wohnungsmiete richtet sich dort damals nicht – wie einst und heute allgemein üblich – nach der jeweiligen Wohnungsgröße:
Entscheidend ist das individuelle Einkommen ihrer Bewohner. Angeregt hat das Max Pommer, der dem Verleger Meyer 1899 vorschlägt, die individuelle Miethöhe auf ein Siebtel der Mieter-Einkommen festzulegen – also auf rund 15 Prozent.
Zudem sind die Meyerschen Wohnungen für Mieter reserviert, die ein Gesamt-Jahreseinkommen von lediglich 800 bis 1800 Mark haben. „Bei Meyer“ zu wohnen, ist daher sehr begehrt.
Im Laufe der Zeit überträgt Meyer – da seine Söhne wenig Interesse an der Stiftung haben – immer mehr Einfluss an die Familie Pommer. Max Pommer wird 1906 Schatzmeister der Stiftung.
Zum Gedenken an den Architekten und auch an sein Engagement für den sozialen Wohnungsbau gibt es in Leipzigs Stadtteil Reudnitz-Thonberg die Max-Pommer-Straße.
Meyers Idee als Blaupause für Essen
Im Stadtarchiv Leipzig gibt es einen Brief aus Essen von der reichen Erbin Margarethe Krupp aus dem Jahr 1905. Darin bittet sie um Informationsmaterial zur Meyerschen Stiftung, was wunschgemäß geschieht.
Ein Jahr später gründet sie dort die Margarethe-Krupp-Stiftung in Essen – die mit 3.100 Wohnungen und 60 Gewerbeflächen bis heute größte soziale Wohnungsstiftung Deutschlands:
Die Idee des Verlegers Herrmann Julius Meyer aus Leipzig ist eine Blaupause für die Stiftung in Essen.
https://hws-berlin.de/unternehmen/unsere-fremdverwaltungen/alexandra-stiftung/
https://de.wikipedia.org/wiki/Herrmann_Julius_Meyer
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Pommer_(Architekt)
https://de.wikipedia.org/wiki/Meyer%E2%80%99sche_H%C3%A4user
(dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)




Autor:Holger Zürch |
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