Meyer’sche Häuser Leipzig
Wohnen „bei Meyer“ – begehrt seit 125 Jahren

Meyer-Siedlung Leipzig-Reudnitz | Foto: Freddo213, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=127258055
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  • Meyer-Siedlung Leipzig-Reudnitz
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Im vorigen Beitrag ging es um die Stiftung Meyer’sche Häuser als nachhaltiger Anfang des sozialen Wohnungsbaus in Leipzig vor 125 Jahren – und um deren wichtigste Persönlichkeiten, den Verleger Herrmann Meyer und den Architekten Max Pommer.
Diesmal im Mittelpunkt: Die Geschichte der Meyer’schen Häuser und ihre Besonderheiten.

Die Meyer’schen Häuser sind vier zwischen 1887 und 1937 erbaute Wohnanlagen in Leipzig – ursprünglich als Kolonien bezeichnet – mit preisgünstigen, hellen Wohnungen für Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen.

Der christlich geprägte und sozial engagierte Lexikon-Verleger Herrmann Julius Meyer (1826–1909) will in Leipzig neue Prinzipien des städtischen Gemeinschafts-Wohnens verwirklichen. Dafür gründet er 1888 den „Verein zur Erbauung billiger Wohnungen in Leipzig“. Meyers Freund und Mitstreiter, der Architekt Max Pommer (1847–1915), entwickelt dafür rationelle, standardisierte Wohnungstypen in städtebaulichen Ensembles, die mietpreisgünstig sind. Das ermöglicht niedrigere Mieten als auf dem auch damals schon überhitzten freien Markt.

Mit einfachen, soliden und gleichermaßen zweckmäßigen, gesunden Wohnungen samt grünen Innenhöfen und Gemeinschafts-Einrichtungen – wie etwa ein eigener Kindergarten sowie mit Selbstverwaltung wie etwa Vertrauensleute der Mieterschaft – steigt die Lebensqualität der Mieter nachhaltig.

Großzügige Fassadengestaltung verleiht zudem den Meyer-Wohnanlagen ihr besonderes, prägendes Aussehen. Grüne und unbebaute Innenhöfe garantieren reichlich Licht- und Luftzufuhr – sie erweisen sich als wirkungsvolle Lösung für gesundes Wohnen in der Großstadt.

Idee und Verwirklichung gehen zurück auf den Verleger Herrmann Julius Meyer (1826–1909), den Verleger von „Meyers Lexikon“ und vielfältiger erfolgreicher Bücher-Reihen:
Er gründet in Leipzig den „Verein zur Erbauung billiger Wohnungen“ und stattet den Verein mit einem Startkapital von zwei Millionen Mark aus. Diesen wandelt er im Jahr 1900 um in eine Stiftung. Diese heißt heute „Stiftung Meyer’sche Häuser“ und ist nach wie vor Eigentümerin der Wohnanlagen, die sie verwaltet und vermietet.

Die Stiftung bleibt auch in der DDR mit stark eingeschränkten Möglichkeiten bestehen: So etwa darf sie nicht mehr eigenständig Wohnungen vermieten – neue Mieter werden ihr von Leipzigs städtischer Wohnungsvergabestelle zugewiesen.

Architektur und Besonderheiten
Die Entwürfe zu den Wohnkolonien stammen von Leipzigs Architekten und Baumeister Max Pommer (1847–1915). Die Anlagen entstehen zu Zeiten explosiven Bevölkerungswachstums in Leipzig, als der Wohnungsmarkt von Spekulation sowie Mietwucher geprägt ist – und die Wohnbedingungen der einfachen Arbeiter oft von großer Enge und unzureichenden hygienischen Bedingungen.

Angesichts solcher Verhältnisse bietet die Verleger-Stiftung luftig-helle Wohnungen mit fließendem Wasser und kleinen Balkonen als begehrtem Komfort. Um die Wohnungen bezahlbar zu halten, werden standardisierte Typen verwendet und statt Einzelbauten Häuser-Ensembles mit Gemeinschafts-Einrichtungen geschaffen.

Wichtige konzeptionelle Punkte sind Tageslicht und gute Belüftung: Alle Wohnungen hell und zweckmäßig, viele haben – für damalige Verhältnisse sehr fortschrittlich – einen Balkon.

Die tatsächlich einzigartige Besonderheit der Meyer’schen Häuser: Die Wohnungsmiete richtet sich damals dort nicht – wie einst und heute üblich – nach der jeweiligen Wohnungsgröße:

Entscheidend ist das individuelle Einkommen ihrer Bewohner. Angeregt hat dieses damalige Alleinstellungsmerkmal der Architekt Max Pommer, der dem Verleger Meyer 1899 vorschlägt, die individuelle Miethöhe auf ein Siebtel der Mieter-Einkommen festzulegen – also auf rund 15 Prozent.

Auch ist das Anmieten einer Wohnung in den Meyer’schen Häusern nur Mietern möglich, die nachweislich Jahres-Gesamteinkommen zwischen 800 und 1.800 Mark haben. Zur Einordnung: Im Jahre 1896 haben etwa sieben von zehn Arbeitern in Leipzig ein Jahreseinkommen zwischen 780 und 1.600 Mark – und erfüllen somit prinzipiell die Hauptbedingung für eine Wohnung in den Meyerschen Häusern.

„Bei Meyer“ zu wohnen, ist sehr begehrt. Jedoch muss nach einiger Zeit aus betriebswirtschaftlichen Gründen das Alleinstellungsmerkmal „Miethöhe nach individuellem Einkommen“ aufgegeben werden.

An Leipzigs damaligen Stadträndern entstehen im Zeitraum zwischen 1888 und 1937 insgesamt 288 Meyer’sche Häuser mit 2.695 Wohnungen. Jede der vier Wohn-Anlagen umfasst eine oder mehrere Mehrfamilienhaus-Reihen und umschließt einen grünen Innenhof zur gemeinsamen Nutzung. Typisch sind die Fassadengliederung im Stil der Jahrhundertwende um 1900 und zahlreiche Türmchen als Eckdominante.

Wie nachhaltig Verleger Meyers soziales Engagement ist, belegt dies: Er stellt seiner Wohnungsbau-Stiftung immer wieder bis zum Lebensende reichlich Kapital zur Verfügung – die für die damalige Zeit außerordentlich hohe Gesamtsumme beträgt sieben Millionen Mark.

Die Kolonie Lindenau
Die erste Anlage wird zwischen 1888 und 1898 errichtet in Lindenau im Westen von Leipzig, und zwar auf dem Areal Demmeringstraße 8–10, Erich-Köhn-Straße 17–39, Hahnemannstraße 6–28 und 15–21, Henricistraße 25b–53, Rietschelstraße 22 sowie Roßmarktstraße 5–7 und 6–8.

Es entstehen 53 Häuser mit ursprünglich 501 Wohnungen, ein Kindergarten und ein Waschhaus. Die Ecktürme zitieren Stilelemente des Barock.
Koordinaten: 51° 20′ 21.99″ N, 12° 20′ 7.19″ O

Die Kolonie Eutritzsch
In den Jahren 1899 bis 1901 entsteht die Anlage in Eutritzsch in Leipzigs Norden mit 39 Häusern und 321 Wohnungen.

Der große Innenhof ist parkartig gestaltet und umfasst Gartenparzellen, einen Kindergarten sowie ein Badehaus. Charakteristisch sind die Ecktürme mit geschwungenen Kuppeln.
Koordinaten: 51° 21′ 49.47″ N, 12° 23′ 35.87″ O

Die Kolonie Reudnitz
1903 bis 1908 wird im Südosten der Stadt, im Stadtteil Reudnitz, die Wohnanlage mit 57 Häusern und 448 Wohnungen in zwei parallelen Zeilen erbaut. Architektonisch orientiert sie sich an der deutschen Renaissance.

Zwischen beiden Häuserzeilen liegt ein parkähnlicher Bereich, es gibt einen Kindergarten und eine Leihbücherei.
Koordinaten: 51° 19′ 38.72″ N, 12° 24′ 45.11″ O

Die Kolonie Kleinzschocher – „Meyersdorf“
In Kleinzschocher entsteht ab 1907 die größte Wohnanlage der Meyer’schen Häuser als 15 Hektar große Parkanlage – im Volksmund „Meyersdorf“ genannt. Wegen des Ersten Weltkriegs und der Wirtschaftskrise verzögert sich der Bau – er wird erst 1937 vollendet.

Dort werden 139 Häuser mit ursprünglich mehr als 1.400 Wohnungen errichtet. Geprägt ist die Wohnanlage von üppigem Baumbewuchs, es gibt einen Kindergarten.
Koordinaten: 51° 18′ 48.91″ N, 12° 18′ 31.49″ O

Die Kolonie Probstheida – die ungebaute
Die Geschäftsführung der Wohnungsstiftung plant, zu gegebener Zeit in Leipzig eine weitere Siedlung zu errichten. Dafür wird frühzeitig in Probstheida reichlich Land erworben.

Der erste Anlauf scheitert jedoch – der Bauantrag wird in Probstheida abgelehnt. Die Ortschafts-Oberen fremdeln mit der Vorstellung, dass in ihrem dörflich geprägten Milieu mit meist ein- bis zweigeschossigen Bauwerken nun drei- und viergeschossige Mehrfamilien-Häuser errichtet werden sollen. Und mit den sich daraus ergebenden zahlreichen neuen Ortsbewohnern aus anderem sozialen Milieu. Die Folge: Jahrzehntelang passiert gar nichts.

Das Land im Eigentum der Stiftung wird schließlich 1991 auf Drängen der Stadt Leipzig an das Rhön-Klinikum verkauft – „unter Marktwert“ (Zitat: Dieter Pommer, damaliges Mitglied im Stiftungsrat, 26. Mai 2020) . Dort entsteht das Herzzentrum Leipzig, das inzwischen zu den Helios Kliniken gehört.

Max Pommer und die Gartenstadt Alt-Lößnig
In Leipzigs Stadtteil Lößnig gibt es mit Blick auf den Architekten ein Wohnviertel, das durchaus als „kleine Schwester“ der Meyer’schen Häusern gelten kann: Max Pommer hat es – mit seinen Erfahrungen als Baumeister für Meyers Sozialprojekt – entscheidend geprägt.

Im Norden von Lößnig engagiert sich um 1900 die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft AG, zu der Max Pommer gehört, auf einem Stück Land des einstigen Rittergutes – es geht um den Bau von Klein- und Kleinst-Wohnungen. Begrenzt wird das Grundstück von den heutigen Straßen Liechtensteinstraße, Dürrstraße, Rembrandt- (vormals Merveldstraße) und Siegfriedstraße.

Die Wohnanlage – Gartenstadt Alt-Lößnig genannt – ist geprägt von der städtebaulichen Reform-Ideen jener Zeit, so etwa jener der englischen Gartenstadt. Ihre Architekten sind Max Pommer und Max Käppler.

Zwischen 1902 und 1913 entstehen dort Dutzende Mehrfamilien-Miethäuser mit zahlreichen Wohnungen – nach ähnlichen Prinzipien wie die Meyer’schen Häuser. Sie gehören heute zur LWB, zur Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH.

Internationale Beachtung – und Meyers Idee als Blaupause für Essen
Die Wohnungs-Stiftung des Herrmann Meyer, deren Wohnungen der Architekt Max Pommer verwirklicht, findet international Beachtung. Fachleute aus dem In- und Ausland kommen nach Leipzig, studieren das Konzept und schauen sich die Kolonien und das Mieter-Leben an. Es erscheinen Artikel im In- und Ausland über die Stiftung.

Und das besondere, außergewöhnliche „Meyer-Pommer-Projekt“ aus Leipzig findet im Ruhrpott willkommene Nachahmung: Im Jahr 1905 trifft in Leipzig ein Brief aus Essen ein. Darin bittet Margarethe Krupp um ausführliche Informationen zur Meyer’schen Stiftung. Dieser Wunsch wird selbstverständlich erfüllt und umfangreiches Material nach Essen geschickt.

Ein Jahr später gründet die reiche Erbin in Essen ihre Margarethe-Krupp-Stiftung – diese ist mit 3.100 Wohnungen und 60 Gewerbe-Einheiten die bis heute größte soziale Wohnungsstiftung Deutschlands.

Die Stiftung des Verlegers Herrmann Julius Meyer aus Leipzig stand Pate für die Stiftung in Essen.

Die Stiftung heute
Die Stiftung Meyer’sche Häuser in Leipzig hat jetzt
- in der Wohnanlage Lindenau 411 Wohnungen und fünf Gewerbe-Einheiten (also Räumlichkeiten für Geschäft, Werkstatt oder Büro),
- in der Wohnanlage Eutritzsch 317 Wohnungen und zwei Gewerbe-Einheiten,
- in der Wohnanlage Reudnitz 407 Wohnungen und eine Gewerbe-Einheit sowie
- in der Wohnanlage Kleinzschocher 1.136 Wohnungen und 13 Gewerbe-Einheiten.
Die Meyer’schen Häuser sind mittlerweile saniert und modernisiert, sie stehen unter Denkmalschutz.

Insgesamt gibt es nun – aufgrund von Zusammenlegungen – 2.271 Wohnungen.
In diesen Wohnungen – von der 1-Zimmer- bis zur 6-Zimmer-Wohnung ist alles dabei – haben schätzungsweise 6.400 Leipzigerinnen und Leipziger aller Altersklassen ihr Zuhause.

Die Miete dort ist im Vergleich mit den aktuellen Verhältnissen in Leipzig günstig – genau so wie von Stifter und Verleger Herrmann Meyer in der Satzung der Stiftung im Jahr 1900 dauerhaft verankert.

In Leipzig „bei Meyer“ zu wohnen – das ist heute genauso begehrt wie vor 125 Jahren.

Wenn eines Tages ein Buch die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Leipzig beleuchtet, dann gebührt dem Verleger Herrmann Meyer, seiner Stiftung und seinem Architekten Max Pommer das erste Kapitel.

Internet:
https://de.wikipedia.org/wiki/Meyer%E2%80%99sche_H%C3%A4user (dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)
https://landschaften-in-deutschland.de/themen/78_B_106-meyersche-haeuser/

Literatur:
Max Pommer - Architekt und Betonpionier. Hrsg. Stefan W. Krieg, Dieter Pommer und Sächsisches Wirtschaftsarchiv e.V., Beucha 2015

Meyer-Siedlung Leipzig-Reudnitz | Foto: Freddo213, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=127258055
Meyer-Siedlung Leipzig-Lindenau | Foto: L.E.rewi-sor, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14188056
Meyer-Siedlung Leipzig-Eutritzsch | Foto: Gancho, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8339661
Meyer-Siedlung Leipzig-Kleinzschocher | Foto: Colomen, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67248286
Meyer-Siedlung Leipzig-Probstheida, Projekt-Zeichnung im Bauantrag | Foto: gemeinfrei, Archiv Stiftung Meyer’sche Häuser
Ein Wohnhaus der Gartenstadt Alt-Lößnig | Foto: Freddo213 - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=107787412
Autor:

Holger Zürch

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