Wort zur Woche
Die ausgestreckte Hand – Wie Wunder entstehen

Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.
Psalm 98, Vers 1

Da hat Gott wirklich ein Wunder getan, habe ich oft gedacht. Ich stand damals an der Runden Ecke in Leipzig mit einer Kerze in der Hand. Die Menschen hinter mir waren so dichtgedrängt, das war ein ganzer Zug von Leuten, der mich weiter voran und nach vorn geschoben hat. Wir sind an ihnen vorübergezogen, an den Wachsoldaten mit Gewehren in der Hand. Und Jahre später steht plötzlich ein Mann vor mir und will mich sprechen für ein Zeitungsinterview, und wir kommen darüber ins Gespräch, wo ich herkomme und was für mich wichtig war damals, gestern und heute, und plötzlich sagt er: Ich war auch einer, der damals dort stand, einer mit Waffe in der Hand. Jan, der NVA-Soldat, heute duzen wir uns.
Damals war ich erstmal baff. Der hat auf der anderen Seite gekämpft, und hätte er auch geschossen? Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Lange habe ich nichts gesagt. Wir saßen da und schwiegen uns an, und dann habe ich gedacht: Wie kann das sein? Wir leben heute in derselben Stadt. Wir atmen die gleiche Luft. Wir haben uns nichts vorgemacht. Wir haben lange geredet und das Reden wiederholt. So hat Gott uns zusammengeführt mit seinem heiligen Arm. Er schafft Heil mit seiner Rechten. Ja, das denke ich oft. Das Heil, das Gott schenkt, kommt nicht mit historischen Urteilen und nicht mit dem Schwert. Er schafft das Heil mit seiner Rechten. Die Hand, die du ausstreckst, wenn du „Guten Tag“ sagst – auch damit fangen Wunder manchmal an.
Je mehr ich Jan heute zuhöre, entdecke ich den Menschen hinter dem, der damals mit Waffe vor mir stand. Wie einer ins Leben kommt, sucht sich keiner von uns aus. Wo einer aufwächst und welche Menschen er trifft, die mit ihm alles hinterfragen, auch das sucht sich keiner von uns aus.
Aber Gott sucht uns und tut Wunder. Es ist schwer, ein neues Lied anzustimmen. Am Anfang haben wir nur von früher erzählt. Die DDR und der Herbst 89. Heute reden wir viel von dem, was jetzt bestimmend ist. Wir blicken von zwei Seiten auf die Welt und wir ahnen: Gott ist noch größer.

Kristin Jahn, Superintendentin im Altenburger Land

Autor:

Online-Redaktion

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