Im Sinn Johannes Falks
Die verlorenen Kinder

Abschied von Zuhause: In Thüringen lebten im vergangenen Jahr rund 6000 Kinder nicht bei ihren Eltern. | Foto: stock.adobe.com/Mariia Nazarova
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Eigentlich sind die gesetzlichen Vorgaben und das System gut, sagt Björn Johansson, Referent für Kinder- und Jugendhilfe bei der Diakonie Mitteldeutschland. Eigentlich.

Von Katja Schmidtke

Denn immer noch rutschen Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien Gewalt und schwere Vernachlässigung erfahren, durch das Netz, werden stigmatisiert, müssen um das kämpfen, was für andere eine Selbstverständlichkeit ist. "Verlorene Kinder, die weder von Politik noch Gesellschaft richtig wahrgenommen werden", sagt Johansson.

Zuhause – das ist für diese Kinder kein sicherer Ort. Dort bestand für sie oft Gefahr für Leib und Leben durch Gewalt, Verwahrlosung, Missbrauch. Solche traumatischen Erlebnisse prägen und brechen sich zum Beispiel in herausforderndem Verhalten, Schul- und Unterrichtsverweigerung Bahn. Unstete äußere Bedingungen, aber vor allem das permanente Gefühl, nicht willkommen und falsch zu sein, manifestieren die Sicht auf das eigene Ich und die Wahrnehmung der Welt. "Das sind junge Menschen, die am Anfang ihres Lebens stehen. Wenn wir jetzt die Weichen stellen, können sie sich positiv entwickeln", sagt Björn Johansson. Diese Kinder brauchen vor allem Zeit, aber im Durchschnitt dauert eine vom Jugendamt verordnete Hilfe – etwa die Unterbringung in einem Kinder- und Jugendhaus – 20 Monate. Das sei, so der Diakonie-Referent Johansson, viel zu kurz, um an Geist und Seele zu heilen und in der Entwicklung aufzuholen.

Auch die Personalausstattung in den Wohngruppen sei unterschiedlich. Für die Kinder- und Jugendhilfe sind die Landkreise und kreisfreien Städte zuständig. Über die finanziellen und personellen Ressourcen entscheiden also die örtlichen Jugendämter – und die kommunalen Jugendhilfeausschüsse. Ihr Entscheidungsspielraum bemisst sich nicht nur am Geld. "Oft liegt es nicht am Finanziellen, sondern an der Haltung", hat Johansson beobachtet. "Ja, Jugendhilfe ist teuer, aber eine lohnenswerte Investition."

Was die Kirchen tun können

Auch die Kirchen können sich hier einbringen. Denn in Thüringen und Sachsen-Anhalt steht den Kirchen zumindest ein beratender Sitz im Jugendhilfeausschuss zu. Die Diakonie Mitteldeutschland evaluiert gerade mit dem Kinder- und Jugendpfarramt und dem Bund Evangelischer Jugend in Mitteldeutschland die Besetzung der Jugendhilfeausschüsse. Man will sich vernetzen und dazu ermuntern, sich einzubringen, Forderungen zu stellen und zu echten Fürsprechern zu werden. Zum Beispiel für eine gute technische Ausstattung, sodass die Kinder und Jugendlichen digitale Endgeräte für den Schulunterricht bekommen, für eine Finanzierung ihrer in der Schule notwendigen OP- und FFP2-Masken oder für mehr Geld für Freizeit und Urlaub. Bislang stehen Thüringer Kindern, die in Wohngruppen leben, dafür 140 Euro zur Verfügung – pro Jahr. Spenden ermöglichen es, dass sie dennoch an Klassenfahrten teilnehmen oder in den Urlaub fahren können. Hier übernehmen Privatpersonen staatliche Aufgaben, kritisiert Johansson. "Gesetzgeber und Kommunen müssen mehr Verantwortung für diese relativ kleine Gruppe von hochtraumatisierten Kindern übernehmen." In Thüringen lebten im vergangenen Jahr rund 4200 Kinder in Wohngruppen sowie weitere 1800 Jungen und Mädchen in Pflegefamilien. 

Festvortrag von Björn Johansson aus Anlass des 196. Todestags von Johannes Falk: 14. Februar ab 18 Uhr im Herdersaal, Herderplatz 7, Weimar. Die Veranstaltung findet nach 2G-Regeln statt und wird musikalisch umrahmt von Elisabeth Wild (Violine) und Jan Coretti (Klavier). Der Eintritt ist frei.

Autor:

Katja Schmidtke

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