Nachgefragt
Der Verunsicherung Ohr und Herz schenken

Foto: Regina Englert

Der Angriff Russlands auf die Ukraine beschäftigt besonders ältere Menschen. Viele von ihnen haben schon einmal einen Krieg erlebt. Wie man die alten Erinnerungen verarbeiten und der neuen Angst begegnen kann, erklärt Friedemann Büttner. Beatrix Heinrichs hat mit dem Pfarrer für Altenheimseelsorge im Kirchenkreis Erfurt gesprochen.

Wie gehen die Senioren mit Nachrichten aus der Ukraine von dem Leid und der Zerstörung, um?
Friedemann Büttner: Die Pandemie hat den Senioren in den vergangenen Monaten viel abgefordert. Dies hat viele von ihnen stark verwirrt und verunsichert. Nun gab es die Hoffnung, dass das Frühjahr und der Sommer vieles wieder ermöglichen könnten. Mit dieser Aussicht verbunden war auch die Hoffnung, dass das, was wir unter Resilienz verstehen, neu belebt werden würde.
Der Krieg in der Ukraine und die Nachrichten darüber erweisen sich nun als zusätzliche Belastung – nicht nur für die Älteren. Viele Menschen haben Angst vor der aktuellen Situation. Alte persönliche Kriegs- und Leidenserfahrungen werden wieder präsent. Stichworte wie Flüchtlinge, Fliegeralarm, Luftschutzkeller verstärken dies.
Mit welchen Sorgen und Anliegen kommen die Menschen zu Ihnen?
Oft sprechen die Senioren das Thema zwar nicht direkt an, aber die Mitarbeiter und wir Seelsorger nehmen die Signale sehr wohl wahr: Das können ein tiefes Seufzen sein, auch wortlose Tränen oder Erzählungen über das erlebte Leid. Dies von ihnen wahrzunehmen, aufzunehmen, zuzuhören und die Senioren darin ernst zu nehmen, ist wichtig. Ebenso Zeit zu haben, den biographischen Schilderungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, den anschließenden Jahren und der aktuellen Angst und Verunsicherung "Ohr und Herz“ zu schenken. Zudem kommen nicht wenige Mitarbeiter in den Einrichtungen selbst aus der Ukraine; haben sowohl russische als auch ukrainische Wurzeln. Für sie ist etwas passiert – ein doppeltes „Dilemma“, das doppelte Angst und Verunsicherung bedeutet. Auch hier spielt die Begleitung, das Gesprächsangebot von Seiten der Seelsorge eine große Rolle.

Wie können Sie als Seelsorger ganz konkret Unterstützung leisten?
Mir ist wichtig, der Seniorengeneration zu vermitteln, dass sie sich jetzt auf die Jungen verlassen und ihnen vertrauen können. So wie die nun alt gewordene Generation Auf- und Wiederaufbau nach dem Krieg geschafft hat, bin ich überzeugt, dass wir „Jüngeren“ jetzt auch Lösungen für die anstehenden Problemstellungen finden werden.
Wenn ich das Thema in den Gottesdiensten und Andachten aufgreife, bleibe ich nicht bei den Ängsten und Verunsicherungen stehen, sondern versuche aufzuzeigen, was wir mit unserer „kleinen Kraft“ dennoch tun können: durch Spendenaktionen, die freundliche und unkomplizierte Aufnahme von Flüchtenden oder Friedensdemonstrationen.
Eine andere Möglichkeit sind auch die „Klagemauern“ in den Hauskapellen, die es in einigen Einrichtungen gibt. Hier können die Menschen „still“ ihre Sorgen vor Gott ablegen und Kerzen anzünden.

Was raten Sie Familien, wenn das Angstgedächtnis bei den älteren Angehörigen Alarm schlägt?
Tatsächlich berührt mich dieses Thema persönlich emotional stark. Mein Großvater mütterlicherseits war Ukrainer, und meine Mutter ist in Czernowitz in der Süd-Ukraine geboren. Meine Eltern – beide gehen auf die 90 Jahre zu – sind dement und oft nicht lange aufnahme- und gesprächsfähig. Ihnen erzähle ich oft von den Hoffnungsgeschichten hinter allem Dunklen – besonders von denen in unserer großen Familie, von den Kindern, den Enkeln und Urenkeln. Gemeinsam singen wir auch die Lieblingschoräle meiner Eltern, oder wir sprechen die trostvollen Psalmen, die sie auswendig können. Ganz bewusst versuche ich, sie zu schützen vor den verstörenden Fernsehbildern und aktuellen Informationen des Kriegsgeschehens. Sie leben jetzt in ihrer sehr klein gewordenen Welt – und diese möchte ich, soweit es geht, von weiter Belastendem freihalten.

Autor:

Beatrix Heinrichs

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