CIVIL RELIGION
DER SANDMANN
- vier Sandmänner (von l.n.r.: DDR, BRD, E.T.A.Hoffmann, H.Chr. Andersen)
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
VON DEN RESTEN GEHEIMER URRELIGIOSITÄT IM ARBEITER- UND BAUERNSTAAT
Der Sandmann. Kleine Genealogie einer großen Schwellenfigur. Ja – der Sandmann. Der Sandmann ist eine jener Figuren, die man gewöhnlich unterschätzt. Man verordnet sie heute zwischen Kinderbett und Zahnbürste, zwischen Abendgruß und Gute-Nacht-Lied, und glaubt damit, das Männchen erledigt zu haben? Doch das ist ein Irrtum. Der Sandmann ist kein pädagogisches Vermahn- oder Unterhaltungsstück. Er ist eine Grenzfigur – und Grenzfiguren sind immer ernster, als man zunächst vermutet.
Schlaf. Der tägliche Kontrollverlust. Beginnen wir beim Offensichtlichen. Schlaf ist biologisch notwendig. Doch wer ihn darauf reduziert, betreibt eine Art intellektuellen Minimalismus. Religionsgeschichtlich betrachtet ist der Schlaf ein täglich wiederkehrender Ausnahmezustand¹. Der Mensch legt darin seine Weltkompetenz ab. Er hört auf zu sehen, zu sprechen, zu planen. Er wird – für einige Zeit – entmachtet.
Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat diesen Vorgang immer wieder beschrieben: Übergänge solcher Art werden in vormodernen Kulturen ritualisiert, nicht erklärt². Wo der Mensch regelmäßig seine Souveränität verliert, entstehen Gestalten, die diesen Verlust initiieren und begleiten. Der Sandmann ist eine solche Gestalt. Er ist kein liebenswertes Männchen und kein einfältiger Träumer. Er ist der Beauftragte des Übergangs.
Sand in den Augen. Der sogenannte „Schlafsand“ – jene morgens auffindbaren Krümel in den Augenwinkeln – ist der materielle Anlass dieser beiläufigen Mythos-Begleitung. Doch der Sand erklärt den Mythos nicht; er aktiviert ihn. Denn die Augen sind seit jeher symbolisch hoch aufgeladen. In nahezu allen Kulturen stehen sie für Erkenntnis, Kontrolle, Weltzugang³.
Dass der Sandmann in frühen Überlieferungen an den Augen ansetzt – sie reizt, blendet, beschädigt oder raubt –, ist keine willkürliche Grausamkeit. Es ist ein Symbolakt: Die Erkenntnis wird suspendiert. Der Mensch soll und darf für eine Weile nicht sehen.
Ambivalenz statt Moral. Die frühen volkstümlichen Sandmann-Gestalten des 17. und 18. Jahrhunderts sind deshalb ambivalent. Sie bringen Schlaf – und sie drohen dem, der nicht schlafen will. Sie helfen – und sie verletzen⁴. Das ist kein Zeichen moralischer Unreife, sondern Ausdruck dessen, was Rudolf Otto das Numinose genannt hat: Das Heilige ist nie nur freundlich. Es ist faszinierend und beunruhigend zugleich⁵. Die Aufklärung tat sich mit dieser Ambivalenz schwer. Sie wollte Ordnung, Berechenbarkeit, Erziehung. Also wurde der Sandmann pädagogisch eingekleidet: als Drohfigur für unartige Kinder oder als verniedlichter Einschlafhelfer. Doch Mythen lassen sich nicht abschaffen. Sie wechseln lediglich ihre Adresse.
Die Rückkehr des Unheimlichen. E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann” (1816) ist eine solche Rückmeldung des Mythos in einer Welt, die sich von der Geltung mythischer Deutung verabschieden will. Hoffmann greift ältere Volksmotive auf, verlegt sie jedoch ins Innere des Subjekts. Der Sandmann kommt hier nicht mehr von draußen. Er kommt aus der Erinnerung, aus dem Trauma, aus der Angst vor dem Verlust der Wahrnehmung⁶.
Sigmund Freud hat Hoffmanns Text später als paradigmatischen Fall des Unheimlichen analysiert: jenes Gefühls, das entsteht, wenn Verdrängtes wiederkehrt – besonders dort, wo es um Augen, Sehen, Erkennen geht⁷. Der Sandmann ist hier keine Erziehungsfigur mehr, sondern ein Riss im Bewusstsein.
Andersen: die romantische Milderung. Fast zeitgleich entsteht eine freundlichere Gegenbewegung. Hans Christian Andersen erfindet mit Ole Lukøje (1841) einen sanften Traumbringer. Zwei Schirme hat er: einen bunten für schöne Träume, einen dunklen für traumlosen Schlaf⁸. Diese Figur ist keine Verfälschung, sondern eine Romantisierung. Sie nimmt dem Mythos die Schärfe, bewahrt jedoch seine Funktion: Ole Lukøje erklärt nichts. Er handelt. Auch hier bleibt der Übergang zentral.
Das 20. Jahrhundert schließlich - hat den Mythos zähmen wollen. Im 20. Jahrhundert wird der Sandmann medial fixiert. Er erscheint täglich im Fernsehen, immer zur gleichen Zeit, mit festem Ablauf. Man könnte sagen: Der Mythos erhält einen Sendeplatz. Sein Geheimnis scheint geschrumpft. Doch nun geschieht etwas Entscheidendes – und hier lohnt der Blick auf die zwei deutschen Sandmännchen.
Das Sandmännchen der DDR schweigt. Das Sandmännchen der DDR spricht nicht. Es winkt. Es streut Sand. Es verschwindet. Keine Erklärung. Keine Aufforderung. Kein Kommentar. Religionsgeschichtlich ist das hochsignifikant. Übergänge – Initiationen, Todesriten, Schwellenmomente – werden traditionell nicht erklärt⁹. Der Vollzug wird durch Schweigen markiert. Das DDR-Sandmännchen ist, bei aller politischen Einbettung, eine überraschend archaische Figur. Es handelt wie ein ritueller Bote.
Auffällig ist zudem: Dieses Sandmännchen kommt von überall her – aus dem Wald, aus dem Weltall, aus der Meerestiefe, aus dem Nichts. Es hat kein Zuhause, oder besser: Es ist überall daheim. Mit seinem Zwergenmützchen erinnert es an jene unterirdischen Grenzwesen der europäischen Mythologie, an das Geschlecht Alberichs und Mimes: Gestalten der Schwelle, nicht der Ordnung.
Bemerkenswert ist auch seine Autonomie. Während der Abendgruß mit den Jahren zunehmend politisch aufgeladen wurde – durch pädagogische Allegorien und staatliche Figuren –, blieb der Spitzbärtige selbst neutral. Er wurde zu einem abendlichen Anker im Meer einer ritualisierten Staatsideologie des Arbeiter- und Bauernstaates.
Seine Weigerung, auch nur ein einziges Wort zu sagen, ist keine technische Entscheidung, sondern eine asketische Sprachhaltung. Religionsgeschichtlich ist das von Gewicht. In Übergangsriten wird geschwiegen. Schweigen markiert den Vollzug⁹. Der Sandmann spricht nicht, weil der Übergang in den Schlaf nicht erklärt, sondern vollzogen wird.
Der Westsandmann. Das sprechende Sandmännchen des Westens dagegen? Ach Gott … Dem östlichen stand ein westdeutsches Pendant gegenüber. Diese Figur rahmte den Übergang sprachlich ein: „Nun liebe Kinder gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht.“ Solche Formel ist nicht harmlos. Sie verlagert den Übergang vom Ritus zur Didaktik. Der Schlaf wird vorbereitet wie ein Programmpunkt, der Traum als Gabe angekündigt. Sprache domestiziert den Übergang. Der Sandmann wird zum Moderator. Aus mythologischer Perspektive ist dies eine Profanierung. Das Unverfügbare wird kommentiert, nicht mehr durchlitten. Eliade beschreibt diesen Vorgang mehrfach als Kennzeichen moderner Entsakralisierung¹⁰. Das sprechende Sandmännchen hat die politische Wende nicht überlebt. Seine Figur ist mit der Bonner Republik verschwunden.
Schweigen ist keine Leere. Schweigen ist im religiösen Kontext niemals bloße Abwesenheit von Sprache. Es ist eine andere Form der Mitteilung. Die antiken Mysterien lebten vom Schweigegebot¹¹. Wer spricht, ordnet. Wer schweigt, lässt geschehen. Das stumme Sandmännchen der DDR steht paradoxerweise näher bei den Psychopompoi, jenen Seelenführern, die nicht erklären, sondern begleiten. Es kann als ein Überbleibsel des Urheiligen im Alltag verstanden werden. Jede Nacht wiederholt sich sein Auftrag: Sehen endet. Sprache endet. Kontrolle endet.
Der Sandmann kommt nicht, weil es Kinder gibt. Er kommt, weil wir alle Menschenkinder sind und Schlaf brauchen. Und jede Nacht neu lernen müssen, loszulassen.
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Quellen bzw. weiterführende Literatur
¹ Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane, Frankfurt a. M. 1957
² Mircea Eliade, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1963
³ Hans Biedermann, Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989
⁴ Jacob & Wilhelm Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. III, Berlin 1844
⁵ Rudolf Otto, Das Heilige, München 1917
⁶ E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, 1816
⁷ Sigmund Freud, Das Unheimliche, 1919
⁸ Hans Christian Andersen, Ole Lukøje, 1841
⁹ Arnold van Gennep, Les rites de passage, Paris 1909
¹⁰ Mircea Eliade, Mythos der ewigen Wiederkehr, 1949
¹¹ Walter Burkert, Antike Mysterien, München 1990
Autor:Matthias Schollmeyer |
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