alle Jahre wieder
WIDER DIE BESINNLICHKEIT

BESINNLICHKEIT ...

Philippica wider die Besinnlichkeit - ein Pamphlet

Man muss es sagen und es endlich einmal aussprechen, bevor es einem die Kehle zuschnürt: Dieses Wort BESINNLICH, dieses schmierige, wattierte, sprachlich weichgekochte Wort BESINNLICH, das in den Mündern von emsigen Rednern, Kreisleitern, Sparkassendirektoren und sonstigen Leuten zur Adventszeit auftaucht wie ein schlecht gelüfteter Morgenmantel aus dem Vorjahr, dieses Wort ist nicht harmlos, es ist nicht freundlich, es ist nicht fromm – es ist tödlich.

Denn was meint es denn, dieses BESINNLICH? Es meint nichts. Und gerade darin liegt seine Gefahr. Es ist ein Wort ohne Inhalt, aber mit Wirkung. Ein Wort, das alles zuschmiert, was scharf, widersprüchlich, fordernd, unbequem sein könnte. Ein Wort, das nicht zur Besinnung führt, sondern zur Betäubung. Ein Beruhigungsmittel in Silbenform.

Wenn dann der Redner, der sich zuvor mühsam an seinem Mikrofon festgehalten hat, das er wie einen Fremdkörper behandelt, feierlich sagt: „Und nun wünschen wir Ihnen noch ein paar besinnliche Stunden”, dann ist das kein Wunsch, sondern eher eine versteckte Fluchformel. Es ist der sprachliche Tritt in Richtung Garderobe. Denken Sie jetzt bitte nichts mehr. Fühlen Sie nichts Bestimmtes. Hinterfragen Sie nichts. Seien Sie stillgestellt.

Die eigentliche Besinnung – und hier wird es unerquicklich für Freunde besinnlichen Wortnebels – ist nämlich etwas völlig anderes. Besinnung ist ein Vorgang, kein Zustand. Sie ist Anstrengung. Sie ist Zumutung. Sie ist die schmerzhafte Rückkehr des Denkens zu sich selbst. Wer sich besinnt, entdeckt nicht Kerzenschein, sondern Abgründe. Nicht Harmonie, sondern Maßstäbe. Nicht Gemütlichkeit, sondern Verantwortung.

Die christliche Tradition wusste das sehr genau. Besinnung bedeutete dort Umkehr. Metanoia. Richtungswechsel. Ein Wort, das in keinem Verein überlebt hätte, weil es zu sehr riecht nach Entscheidung, nach Konsequenz, nach Wahrheit. Stattdessen also besinnlich: ein Wort, das so tut, als sei Denken etwas Sanftes, etwas Flauschiges, etwas mit Gebäck und Heißgetränk. Ist es eher aber nicht.

Man könnte sagen: BESINNLICH ist das religiös verkleidete Gegenstück zum politischen weiter so. Es signalisiert Tiefe, wo keine ist, Ernst, wo Routine herrschen möchte, Innerlichkeit, wo eigentlich Leere regiert. Es ist das Feigenblatt der Gedankenlosigkeit, das Alibi eines Festkalenders, der jedes Jahr dieselben Sätze absondert wie ein schlecht gewarteter Automat.

Und darum sollte man dieses Wort nicht mehr gebrauchen. Nicht aus sprachpolizeilichem Eifer, sondern aus geistiger Hygiene. Wer etwas meint, soll es sagen. Wer Ruhe wünscht, soll Ruhe wünschen. Wer Hoffnung meint, soll Hoffnung riskieren. Wer nichts zu sagen hat, soll schweigen.

Aber BESINNLICH – dieses Wort gehört nach dorthin zurück, wo es herkommt: in die Redemanuskripte besinnungsloser Jahrzehnte, zwischen Lametta und Pflichtapplaus, dorthin, wo Sprache nicht mehr denkt, sondern nur dekoriert.

Niemals ist Besinnung besinnlich. Sie ist ein Einschnitt. Und genau deshalb wird man sie bei Weihnachtsfeiern so selten finden …

Autor:

Matthias Schollmeyer

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

29 folgen diesem Profil

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Video einbetten

Es können nur einzelne Videos der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Playlists, Streams oder Übersichtsseiten.

Abbrechen

Karte einbetten

Abbrechen

Social-Media Link einfügen

Es können nur einzelne Beiträge der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Übersichtsseiten.

Abbrechen

Code einbetten

Funktionalität des eingebetteten Codes ohne Gewähr. Bitte Einbettungen für Video, Social, Link und Maps mit dem vom System vorgesehenen Einbettungsfuntkionen vornehmen.
Abbrechen

Beitrag oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Schnappschuss einbetten

Abbrechen

Veranstaltung oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.