Zwischenruf
Die Funktionalisierung der Pandemie

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Von Werner Thiede

Schon sind sie da, die Prediger, die in den Tagen steigender Beklemmung rund um die Welt anheben, die Pandemie als Bußruf Gottes zu deuten. Doch sollte man nicht zu euphorisch darauf setzen, dass die Menschheit nach überstandener Pandemie sich irgendwie gebessert und eine langfristige Kursänderung hin zu mehr Menschlichkeit, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft vorgenommen haben werde. Solches anzunehmen wäre wohl ähnlich illusorisch, wie das entsprechende Hoffnungen nach der Finanzkrise von 2008/09 gewesen sind.
Schon vor Ausbruch der Corona-Krise hatte die neue EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen die Digitalisierung zu einem auch finanziell forcierten Top-Thema erklärt. Jetzt wird die Pandemie von ihr und anderen funktionalisiert, um die technokratische Programmatik voranzutreiben. Die zunehmende Nutzung digitaler Techniken während der Pandemie für Schulersatz und virtuelle Kontakte bildet eine willkommene Steilvorlage für längst angesagte Bestrebungen. Aber wie solidarisch ist man da mit den Verlierern der digitalen Revolution? Sind all die digitalisierungskritischen Stimmen rund um die Welt plötzlich erledigt? Soll nunmehr verschwiegen werden, dass die Digitalisierung zunehmend die Privatsphäre bedroht und totalitäre Verhältnisse begünstigt? Prompt wird ja die Pandemie in China, Ungarn und Moskau zur Verstärkung von Maßnahmen genutzt, die einer smarten Diktatur nahekommen. So rühmte man sich Ende März in Moskau, mithilfe digitaler Informationssysteme werde man in Kürze die Bewegungen der Bürger vollständig unter Kontrolle haben. Selbst in Deutschland wird bereits das Handy-Tracking sehr ernsthaft erwogen – primär noch auf freiwilliger Basis. Es könnte auch anders kommen: Nachgedacht wird offenbar über digitale Zertifizierungen, die zeigen, wer getestet oder geimpft wurde. Sollte diese oder die nächste Corona-Krise am Ende als Vorwand zur totalen Überwachung der Menschheit per Mikrochip herhalten? Und wird der rasant steigende Wert von Hygiene dazu benutzt werden, die Digitalisierung des Bezahlens, also die Abschaffung des Bargelds voranzutreiben?
Solches problematische Agieren lebt von der Todesangst in der Bevölkerung: „Angst essen Freiheit auf“, hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihr neuestes Buch betitelt. Dagegen kann gerade die Freiheit eines Christenmenschen helfen. Als Martin Luther es 1535 mit der Pest in Wittenberg zu tun bekam und aus Gründen der Vorsorge aufgefordert wurde, die Stadt zu verlassen, harrte er tapfer aus. In einem Brief schrieb er sogar humorvoll, einige zurückgebliebene Studenten würden das faule Leben mit der Pest genießen: Ihre Bücher hätten die Kolik, ihre Schulranzen seien geschwollen, und Schreibfedern samt Tinte hätten einen Hautausschlag.

Umweltbelastungen fördern Pandemien
Gewiss könnte die Corona-Krise eine Chance zu verbreiteter Besinnung und Umkehr sein. Bundesumweltministerin Svenja Schulze hat schon vor der Pandemie erklärt: „Wenn wir die Digitalisierung unverändert fortsetzen, wird sie zum Brandbeschleuniger für die ökologischen und sozialen Krisen unseres Planeten.“ Doch die derzeitigen Signale zeugen von wenig Umkehrbereitschaft. Vielmehr versucht man oft genau das jetzt geschickt voranzutreiben, wogegen Bedenkenträger schon lange argumentiert hatten. So will die Bundesregierung mit einer „Informationskampagne“ Bürgern die Angst vor der neuen 5G-Technologie nehmen, indem sie darauf verweist, wie hilfreich doch gute Kommunikationstechniken sich während der Corona-Krise erwiesen hätten. Als ob dieser Erweis nicht just unter 4G-Bedingungen erbracht worden wäre! Die viel diskutierten, auf 5G gemünzten Einwände sind damit keineswegs aus der Welt geschafft. Bereits 2001 hatte Till Bastian in dem Buch „Die lautlosen Gegner. Seuchen gefährden unsere Zukunft“ Pandemien als Konsequenz aus den wachsenden Umweltbelastungen vorhergesagt. Dabei scheut sich die Bundesregierung nicht, in ihrem neuesten Mobilfunk-Bericht anzukündigen, die Digitalisierung werde „zu einer starken Zunahme der drahtlosen Kommunikation insgesamt, mit vermehrtem Einsatz elektromagnetischer Felder und damit auch zu einer insgesamt höheren Belastung der Bevölkerung führen.“ Warum muss da noch der so umstrittene 5G-Mobilfunk flächendeckend zur Anwendung kommen? Würde nicht sein Einsatz in ausgewählten Zusammenhängen genügen? Und sollte nicht am besten jene EU-Richtlinie widerrufen werden, auf deren Basis ungeachtet aller wissenschaftlich geäußerten Bedenken gegenüber der Funkstrahlung demnächst Funktechnik bei Heizwärme- und Wasserzählern für sämtliche Privathaushalte von Mehrfamilienhäusern und Mietswohnungen gesetzlich vorgeschrieben wird? Kurz und gar nicht gut: Die Corona-Krise dürfte kaum einsichtsvolle Umkehr bewirken, sondern im Gegenteil längst als bedenklich Markiertes noch forcieren.

Der Autor ist Pfarrer i. R. und apl. Professor für Systematische Theologie.

Werner Thiede
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