Ich wollte nicht mehr leben

Blick nach vorn: "Ich darf weiterleben", freut sich Andreas Weigel. Er hofft, wenn er die Reha überstanden hat, wieder der Alte zu sein. Die Prognosen der Fachärzte bestärken ihn in seiner Hoffnung. Die Kommunikation über das Smartphone (r.) ist derzeit seine wichtigste Verbindung aus der Isolation zur Außenwelt.  | Foto: Willi Wild
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  • Blick nach vorn: "Ich darf weiterleben", freut sich Andreas Weigel. Er hofft, wenn er die Reha überstanden hat, wieder der Alte zu sein. Die Prognosen der Fachärzte bestärken ihn in seiner Hoffnung. Die Kommunikation über das Smartphone (r.) ist derzeit seine wichtigste Verbindung aus der Isolation zur Außenwelt.
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Covid-19-Überlebender: Bei Andreas Weigel hat es harmlos mit einer Erkältung begonnen. Der 55-Jährige gehört nicht zur Risikogruppe. Er ist sportlich, hat keine Vorerkrankung und, dank 40 Jahren Posaunenchor, eine gute Lunge. Warum er Ostern zweiten Geburtstag feiert, erzählt er im Gespräch mit Willi Wild.

Wie geht es Ihnen im Moment?
Andreas Weigel: Was meinen Gesundheitszustand anbelangt, kann ich im Moment nur dankbar sein. Meine Lunge ist wieder voll funktionsfähig. Die intensiven Untersuchungen der vergangenen vierzehn Tage haben auch gezeigt, dass es möglicherweise keine Folgeschäden gibt. Ich bin zwar körperlich noch sehr geschwächt, aber auf einem guten Weg. Vor zwei Wochen bin ich die ersten 40 Schritte gegangen und gestern waren es schon 4 600. Ich merke die Fortschritte. Ich habe zehn Kilogramm verloren. Aber ich habe wieder Appetit. Es geht voran.
Dazu muss man allerdings wissen, dass ich als Corona-Erkrankter völlig atypisch bin. Ich hatte keine Vorerkrankungen, keine Hypertonie, noch bin ich adipös. Im Gegenteil: Ich bin sportlich, war gesund und immer sehr aktiv.
Allerdings seelisch und psychisch fühle ich mich in einer grenzwertigen Situation. Ich war fünf Wochen isoliert, nahezu von der Außenwelt abgeschottet, und hatte keinerlei Kontakt zu Menschen, die ich kenne. Ich erlebte und erlebe eine große Einsamkeit. Die Gefahr, dass mir auch hier, in der Reha, die Decke auf den Kopf fällt, ist groß. Ich telefoniere sehr viel und freue mich über Anrufe. Ich erzähle meine Geschichte, weil es mir auch hilft, das Erlebte zu verarbeiten.

Wie hat eigentlich alles begonnen? Wie haben Sie gemerkt, dass Sie infiziert sind?

Das kam aus heiterem Himmel. Am Freitag, 20. März, Frühlingsanfang, merkte ich, dass es mir nicht gut ging. Am Sonnabend habe ich mich mit Erkältungssymptomen ins Bett gelegt. Am Montag habe ich festgestellt, dass ich keinen Geschmackssinn mehr habe. Daraufhin habe ich einen Test machen lassen. Am Mittwoch bekam ich einen Anruf von meinem Hausarzt, der mir mitteilte: „Du bist jetzt Patient Nummer eins in meiner Praxis.“ Eine halbe Stunde später wurden meine Frau und ich vom Gesundheitsamt unter Quarantäne gestellt.

Wie ging es Ihrer Frau?
Bei ihr war der Verlauf völlig unproblematisch. Bei mir zog sich dann das Unwohlsein noch zwei Tage hin. Dann ging es aber sehr schnell. Innerhalb weniger Stunden hat sich mein Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert, so dass ich mich in die Notaufnahme ins Krankenhaus nach Werdau begeben habe. Auf dem Röntgenbild war eine starke Veränderung der Lunge zu sehen. Ich hatte plötzlich Atemnot. Noch am selben Tag hat man mich auf die Intensivstation verlegt und ins künstliche Koma versetzt. Von 100 auf null in so kurzer Zeit. – Erst am Gründonnerstag erfuhr ich, was mit mir geschehen war.

Wie viel Zeit ist dazwischen vergangen?

Ich war 14 Tage im künstlichen Koma und musste anschließend noch eineinhalb Wochen künstlich beatmet werden. Insgesamt habe ich knapp vier Wochen auf der Intensivstation verbracht. Im Anschluss lag ich noch auf der Normalstation des Universitätsklinikums Gießen.

Sagten Sie nicht, dass Sie im Krankenhaus in Werdau ins künstliche Koma versetzt wurden?

Ja. Mein Gesundheitszustand verschlechterte sich dramatisch, sodass Freunde und Experten von der Johanniter-Unfall-Hilfe meine Frau überzeugten, mich mit dem Intensiv-Hubschrauber in die auf Lungenerkrankungen spezialisierte Uni-Klinik nach Gießen zu verlegen.

Haben Sie an die lange Zeit im künstlichen Koma eine Erinnerung?

Ich hatte eine ganz intensive Nahtod-Erfahrung. Es war das klassische Erleben, wie es viele berichten. Mein Leben zog im Zeitraffer an mir vorbei. Ich war mittendrin in einem gewaltigen Todeskampf. Dabei spielte auch eine Rolle, dass ich keine Patientenverfügung habe. In mir kämpften Mächte und Kräfte im wahrsten Sinne um Leben und Tod. Dabei war ich sogar schon Zeuge meiner eigenen Beerdigung. Ich habe gehört, welche Worte an meinem Grab gesprochen wurden.

Konnten Sie dabei auch einen Blick in die Ewigkeit werfen?

Vielleicht (Pause), aber diese Eindrücke und Gedanken will ich lieber für mich behalten. Ich habe Bilder gesehen, die waren so beeindruckend, dass ich sie nie mehr vergessen werde. Das betrachte ich als ein großes Geschenk.

Der Todeskampf ist gut ausgegangen. Sie sind mit dem Leben davongekommen. Wären Sie zum Sterben bereit gewesen?

Auf jeden Fall. Ich wollte so nicht mehr weiterleben. Ich war nur noch von technischen Apparaten umgeben und ich dachte mir, wenn das jetzt mein Leben sein soll, das will ich nicht. Ich habe mir in dieser Situation im Wachkoma Infusionen, Kabel und Schläuche der medizinischen Gerätschaften, an die ich angeschlossen war, abgerissen.
Da ich intubiert war, konnte ich nicht sprechen. Ich hatte nur die Möglichkeit, mich über eine Tafel mit dem Alphabet zu artikulieren. Der erste Satz, den ich buchstabierte, lautete: „Ich will sterben!“

Ab wann hatten Sie das Gefühl, dass es wieder aufwärtsgeht?

Erst am Gründonnerstag, als ich aufwachte, da ging es mir besser. Das hing damit zusammen, dass die Beatmung mit der Trachealkanüle über den Kehlkopf gesteuert wurde. Erst da begriff ich, dass ich in Gießen bin und dass die Apparaturen, an denen ich hänge, nicht mein zukünftiges Leben bedeuten.
Am Karsamstag haben mir die großartigen Ärzte, die eine wirklich tolle Arbeit geleistet haben, geschildert, wie es um mich stand, und dass ich jetzt wieder eine Perspektive habe. Da wusste ich, dass es wieder wird. Allerdings musste ich an diesem Tag auch erfahren, dass mein Vater infiziert ist und es ihm ganz schlecht geht.

Am Ostermorgen haben Sie auf Facebook ein Foto von sich gepostet mit dem Satz: „Der Herr ist auferstanden! Halleluja!“ Wie haben Sie das Osterfest erlebt?
Einsam. Ich konnte mich im Bett nicht bewegen. Mein Blick fiel auf ein Bild an der Wand im Vorraum zu meinem Zimmer. Da ich meine Brille nicht aufsetzen konnte, sah ich nur die Konturen des gekreuzigten Christus. Und ich habe vom Kirchturm in der Nähe ein phantastisches Glockengeläut gehört. Das erinnerte mich an zu Hause. Das größte Glücksgefühl hatte ich, als ich einen kleinen Schokoladen-Osterhasen zum Frühstück bekam. In der Passionszeit verzichte ich traditionell auf Süßes und Alkohol. Es war unbeschreiblich: Ich hatte zwar meinen Geschmackssinn noch nicht, habe aber trotzdem den Schokoladen-Osterhasen mit großer Freude gegessen. Das war ein kleiner Schritt auf dem Weg zurück ins Leben.

Wie sind Sie als „Macher“ mit der Hilflosigkeit umgegangen?

Der Umstand, dass ich gepflegt werden musste und auf Hilfe angewiesen war, damit konnte ich umgehen. Dass ich nicht reden und mich nicht bemerkbar machen konnte, war eine furchtbare Erfahrung. Ein entscheidender Punkt meiner „Menschwerdung“ war der Tag, als mir die Trachealkanüle gezogen wurde und ich wieder reden konnte.

Wie haben Sie diese existenziellen Erfahrungen verändert und was bedeutet das für Ihren christlichen Glauben?
Die Frage nach dem Warum stelle ich mir nicht, auch nicht im Zusammenhang mit meinem Vater. Ich bin sächsischer, lutherischer Christ. In meiner Haltung bin ich sehr pragmatisch. Ein Pfarrer hat mir heute eine Andacht gehalten und das gemeinsame Vaterunser hat mir unendlich geholfen.
Die Erkrankung und die Folgen haben meinen Glauben weder beeinflusst noch befördert. Ich bin zunächst dankbar, denn es ist alles andere als selbstverständlich, dass ich noch lebe. Ich denke über die Sinnhaftigkeit von Patientenverfügungen nach. Und ich bin mir bewusst, dass ich hier noch eine Aufgabe habe, die ich mit aller Kraft und Freude und mit Gottes Hilfe mutig angehen will.

Gestern haben Sie erfahren, dass Ihr Vater im Krankenhaus an Covid-19 verstorben ist. Wie gehen Sie damit um?
Es zerreißt mir schier das Herz. Nicht nur, dass ein Abschiednehmen nicht möglich war, sondern auch, dass er nicht in dem Rahmen beerdigt werden kann, wie er sich das gewünscht hätte. Es ist unwürdig, dass nur 15 Personen zugelassen werden und eine Urnenbeisetzung vorgeschrieben ist. Wir haben uns in der Familie aber verabredet, dass, sobald es wieder möglich ist, ein angemessener Gedenkgottesdienst nachgeholt wird. Ich bin froh, dass die Familie entschieden hat, dass die Urnenbeisetzung erst nach meiner Reha erfolgt.

Was gibt Ihnen in Ihrer momentanen Situation Halt und Hoffnung?

Ich darf gesund weiterleben und ich habe möglicherweise auch noch einige Jahre vor mir. Das finde ich einfach gut!

Andreas Weigel ist hauptamtlicher Landesvorstand der Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) Landesverband Sachsen-Anhalt/Thüringen. Der 55-Jährige aus Werdau ist Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Zwickau und war von 2002 bis 2009 Bundestagsabgeordneter. Er gehört dem Bundesvorstand des Arbeitskreises "Christen in der SPD" an. Von 2008 bis 2014 war Weigel Synodaler der sächsischen Landeskirche. 

Blick nach vorn: "Ich darf weiterleben", freut sich Andreas Weigel. Er hofft, wenn er die Reha überstanden hat, wieder der Alte zu sein. Die Prognosen der Fachärzte bestärken ihn in seiner Hoffnung. Die Kommunikation über das Smartphone (r.) ist derzeit seine wichtigste Verbindung aus der Isolation zur Außenwelt.  | Foto: Willi Wild
Ostermorgen: "Dem Team der Uni-Klinik Gießen und meinem Herrgott danke ich, dass ich die letzten drei Wochen überleben konnte! Der Herr ist auferstanden! Halleluja!" | Foto: privat
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