vom Auftrieb des Geistes
die Möwe zum Beispiel ...

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Schau nach der Möwe am Rande des Meeres. Dort, wo Wasser und Festland sich zu jeweiliger Weite ausdehnen. In stummer Anmut nutz der Vogel die Thermik, um sich empor tragen zu lassen. Man begreift mit einem Mal, dass es in der Schöpfung Bewegungen gibt, die nicht nur mechanisch zu verstehen wären, sondern als Sinnbilder bedeutungssatter Zusammenhänge. Alle Vögel überhaupt, erfüllt von einem geheimen Wissen um die Strömungen der Luft, wissen sich dem Auftrieb anzuvertrauen – nicht so sehr, um der Schwere der Welt zu entkommen, sondern mehr noch um sich über dieser Schwere in Leichtigkeit zu vollenden. Und das möge uns jetzt als Gleichnis für den Geist im Allgemeinen gelten.
Der Geist ist kein Besitz, kein Instrument, keine Erfindung des Menschen, sondern eine Bewegung. Er ist Auftrieb, der den Menschen nie ganz von der Erde trennt, sondern ihn zur Durchlichtung seiner selbst und der Welt unter ihm ruft. Wer so denkt, möchte man sagen, wie eine Möwe fliegt, der hebt ab – nicht ins Leere, sondern in eine Atmosphäre, die nach oben trägt. Und diese Atmosphäre nennen wir, im theologischen und philosophischen Ernst, das Geistige.
Peter Sloterdijk hat besonders dieses Phänomen bei der Schilderung einer ganz besonderen Anthropotechnik genutzt, nämlich im Blick auf die "Lehre vom übungshaften Menschen", Er bezeichnet es als Vertikalspannung. Gemeint ist damit das strukturelle Gefälle im menschlichen Dasein, das sich vom Niedrigen zum Höheren, vom Triebhaften zum Himmlischen, vom Basalen zum Transzendenten erstreckt. Diese Spannung ist kein Defekt, sondern macht den Glanz des Menschlichen aus. In ihr lebt die Möglichkeit der Aufrichtung von der schweren Erde, der es zugleich gilt, nicht untreu zu werden. Eine geistige Statik ist gemeint, die zugleich Ethik, Askese, Ästhetik und letzen Endes sogar Ekstasis ist.
Joseph Ratzinger, dessen Denken ganz anders gegründet ist, durchdrungen vom Vertrauen in das Licht des ewig göttlichen Logos, würde Sloterdijks Behauptung ergänzend hinzufügen: Diese Spannung ist das anthropologische Drama, und zugleich die Signatur der Gottebenbildlichkeit. Der Mensch ist nach oben offen, weil er aus dem Oben stammt. Die Christologie ist, in diesem Sinne, die endgültige Bestätigung dieser Vertikalspannung, denn in Christus begegnet uns die Einwurzelung des Höchsten im Niedrigsten – der Abstieg Gottes aus den Sphären des Geistes in die Bedingungen der Erhebung des Menschen - nämlich in das Reich der Schwere und ihrer unabänderlichen Materialität.
Thomas Mann schließlich, den wir im Jahr 2025 als Geburtstagskind feiern, hätte, mit dem ihm eigenen Sinn für Stil, Gewicht - für Würde und Ironie, beschrieben, wie gefährdet diese Vertikalspannung ist. Und wie leicht sie in Dekadenz, in Pose, in tragikomische Verzerrung kippen kann. Aber gerade deshalb müsse man sie kultivieren. Denn „Aufstieg“ ist nicht bloß ein romantisches Bild, sondern eine Form des Ernstes. Aufstieg ist eine Geste des innerlich Geraden, des aufrechten Gangs, der sich nicht mit dem Alltäglichen zufriedengibt, sondern das Ungeheure, das Erhabene, ja das Göttliche sucht – wissend, dass dieser Weg auch in die Welt großer Kältegrade führt.
Denn in den Höhen wird es kalt. Die Thermik trägt, ja – aber sie trägt nicht in Behaglichkeit. Wer sich vom Geist tragen lässt, muss damit rechnen, dass er einsam wird, dass er friert, dass ihm die Luft dünn wird. Auch das gehört zur Wahrheit des Geistes: Der Geist erwärmt nicht, er klärt. Er erhebt nicht zum Behagen, sondern zur Schau. Und diese Schau ist, in ihrem Wesen, eine besondere Form des Kühlen – aber der heiligen Kälte, in der Wahrheit nicht mehr flimmert, sondern erkannt wird. Wer diesen Zusammenhang ganz und gar bestreiten will, zeigt damit, dass er noch nicht die Flügel ausbreiten durfte ...
Man könnte also sagen: Der Geist gleicht der Thermik. Er ist unsichtbar, aber tragfähig. Man kann ihn nicht machen, aber man kann sich ihm anvertrauen. Der Vogel kann nicht fliegen ohne die Thermik, der Mensch kann nicht wirklich denken ohne den ihn erhebenden Geist. Und der Theologe – oder der Dichter – ist einer, der geübt hat, in dieser Thermik zu schweben, mit ihr zu spielen, ohne je zu vergessen, dass jeder Aufstieg nach einiger Zeit wieder den Boden braucht, von dem er sich erhob - und der ihn wieder empfängt, wenn alle Höhenflüge vorbei sind, weil unweigerlich an deren höchstem Punkt etwas einsetzt, was man ehrlicherweise Müdigkeit nennen muss.
So bleibt uns - am Ende dieser kleinen Meditation - das Bild der Möwe. Sie steht für ein Denken, das sich hebt, aber nicht davonfliegt, sondern kreisen will über der scharfen Trennlinie, wo Meer und Erdkreis sich berühren, indem sie das Ganze voneinander getrennt halten. Für ein Menschsein, das sich der Vertikalspannung stellt. Entweder mit dem katholischen Ernst des großen Ratzingerpapstes, der verspielten Eleganz des Geburtstagskindes Thomas Mann und der provokanten Klarheit des Philosophen Peter Sloterdijk.
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