Hilfe für Jugendliche
Füße auf der Erde, Herz im Himmel

- Viele der jungen Menschen hätten das Gefühl, mit ihren Problemen allein zu sein. "Davon sind sie überfordert", erklärt Rosanna Tippel von Manege im Don-Bosco-Zentrum in Berlin-Marzahn
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Es kann schon mal sein, dass eine ältere Dame sich bei Pater Simon Härting oder seinen Mitarbeitern meldet und sagt: "Mein Enkel - also das ist nicht normal, was der macht. Der geht nicht mehr aus dem Haus. Könnt ihr dem nicht helfen?" Dann macht sich jemand des Teams der Jugendhilfe-Einrichtung Manege in Berlin-Marzahn auf und besucht den Jugendlichen. "Manchmal kommen wir 10 bis 15 Mal, werfen unsere Karte in den Briefkasten, bis einer mal den Kopf zur Tür rausstreckt", sagt Pater Härting. "Das ist dann ein erster Erfolg."
Von Nina Schmedding
Es gibt viel Not in dem Bezirk, in dem sich die Plattenbauten aneinanderreihen. "Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich direkt drei neue Themen, die man angehen müsste", sagt der 41-jährige Einrichtungsleiter und erzählt davon, dass manchmal nur einem besuchenden Handwerker oder Stromableser durch Zufall auffällt, dass es hier ältere Menschen gibt, die in ihren Wohnungen einsam und unbemerkt völlig verwahrlosen.
Damit es nicht soweit kommt, will der Pädagoge bei jungen Menschen aus schwierigen Verhältnissen rechtzeitig "Lücken schließen", wie er es nennt. "Wenn ich weiß, dass mein Kind gut betreut ist, kann ich mich besser um meine Berufsausbildung kümmern", gibt er ein Beispiel. "Und wenn ich weiß, dass das Jobcenter meine Miete zahlt, habe ich weniger Not, für Geld zu sorgen - womöglich auf illegale Weise."
"Vor die Welle kommen"
Ziel seiner Einrichtung, die auch Standorte in Reinickendorf und Treptow-Köpenick hat, sei "vor die Welle zu kommen" - umso etwa auch eine mögliche kriminelle Laufbahn weniger wahrscheinlich zu machen: Nach Angaben der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik stieg die Zahl der tatverdächtigen Kinder allein bei Gewalttaten im vergangenen Jahr um 11,3 Prozent, bei Jugendlichen um 3,8 Prozent. Dies ist auch eines der Themen des größten europäischen Jugendhilfegipfels, der am Dienstag in Leipzig beginnt.
Seit 20 Jahren gibt es die Manege gGmbH im Don-Bosco-Zentrum in Marzahn, direkt an der S-Bahn gelegen. 450 junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren werden hier zur Zeit betreut. Die Einrichtung bietet demnach Unterstützung in allen Lebenslagen an, unter anderem vorbereitende Maßnahmen zur Berufsausbildung, einen mobilen Beratungsbus, Unterricht für Schulverweigerer, Notschlafplätze - und auch eine eigene Kita mit 25 Plätzen. "Wir haben gesehen, dass dafür Bedarf da war", sagt Härting, der jugendlich wirkt und in Jeans und schwarzem Kapuzenpulli nicht aussieht wie ein Ordensmann.
"Mit offenen Augen"
Er bekommt bei seiner Arbeit viel zu hören: von Eltern, die ihre Kinder ausnutzen, schlagen und betrügen; von jungen Menschen, die Drogen nehmen und sich deshalb prostituieren; von Jugendlichen, die den Schulbesuch verweigern, weil sie mit 13 immer noch nicht schreiben können. "Die jungen Menschen hier, die bringen alles mit", sagt Härting. Er gehe durch seine Tätigkeit "mit offenen Augen durch die Welt. Man nimmt an jeder Ecke etwas wahr."
Sorgen machen ihm vor allem auch die zunehmenden psychischen Erkrankungen von jungen Menschen insgesamt. Dies mache sich auch in Wohngruppen der Jugendhilfe bemerkbar. "Früher war es vielleicht ein Bewohner mit Medikamenten, heute sind ganze Wohngruppen medikamentös eingestellt", so Härting. Als Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen vermutet der Pädagoge mit Verweis auf bisherige wissenschaftliche Untersuchungen vor allen Dingen Corona und die Sozialen Medien. Endgültig geklärt seien die Ursachen aber bisher nicht. Die Freigabe von Cannabis verstärke diese Probleme noch - aus seiner Sicht ein "Riesenfehler", so der Experte.
"Mit dem Herzen im Himmel"
Wie geht er selbst mit der Anhäufung von Not um? Er versuche in solchen Momenten, ruhig zu bleiben und einfach zuzuhören. "Was bringt es den jungen Menschen, wenn ich selbst durcheinanderkomme?", sagt der Theologe. Er hält es mit Don Bosco, dem Ordensgründer: "Steht mit den Füßen auf der Erde und wohnt mit dem Herzen im Himmel", lautet ein Spruch von ihm, den die Einrichtung zu ihrem Motto gemacht hat.
Außerdem gebe es auch Erfolge, sagt Härting und erzählt von dem freudestrahlenden jungen Koch, der eine der Werkstätten der Einrichtung besucht hatte und den er bei einem Besuch eines Brauhauses in Berlin-Mitte zufällig traf. Oder das junge Mädchen, das jetzt eine Ausbildung in Thüringen zur Bäckereifachverkäuferin macht.
Rosanna Tippel, 29 Jahre alt, arbeitet im so genannten offenen Bereich des Hauses, eines Rundbaus mit bunten Fenstern. Workshop-Angebote wie ein Stick-Kurs oder ein Lauftreff sind an den Wänden ausgehängt, Gesellschaftsspiele türmen sich im Regal. Es gibt für die Jugendlichen, die hier wohnen, etwas zu essen. Und junge Menschen finden hier rund um die Uhr einen Ansprechpartner, wenn es nötig ist.
Von Problemen überfordert
Das kann auch mitten in der Nacht sein. "Gerade zu ungewöhnlichen Zeiten kommen die interessanten Themen zum Vorschein", sagt Tippel. Für die Pädagogin ist es "eine Herzensangelegenheit, hier zu arbeiten. Ich komme selbst aus schwierigen Verhältnissen. Deshalb möchte ich gern junge Menschen unterstützen, denen es ähnlich geht und ihnen zeigen, dass es Hilfe gibt." Viele der jungen Menschen hätten das Gefühl, mit ihren Problemen allein zu sein. "Davon sind sie überfordert."
Die junge Frau - blonde Haare, blaue Augen, Jeans und Pulli - findet es wichtig, dass sie ihre persönliche Erfahrung bei der Arbeit einbringen kann. Es sei so leichter, eine Verbindung zu den Jugendlichen zu bekommen. Vor allem versuche sie, den jungen Menschen "die schönen Seiten des Lebens zu zeigen", erzählt Rosanna. "Und dass sich für das Leben die Anstrengung lohnt."
Die Mitarbeiterin ist auch Ansprechpartner für die Jugendlichen, die für längere Zeit oder als Überbrückung im Haus wohnen. Wie der 20-jährige Henri zum Beispiel, der eigentlich anders heißt. Als Rosanna an seine Tür klopft, öffnet er diese nur einen Spalt, ist aber bereit, ein paar Fragen zu beantworten. Seit ein paar Tagen wohnt er in einem Notübernachtungszimmer der Einrichtung. Zu Hause ist er weg, "weil es Stress gab", sagt er knapp. Zurück dorthin will er nicht mehr. "Aber ich versuche, das jetzt hinzubekommen mit der Ausbildung." Das erste Mal hätte es nicht geklappt.
(KNA)
Autor:Online-Redaktion |
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