Weihnachten in der Hospiz-Küche
Das letzte Mahl

Foto: pexels.com/ Nicole Michalou

Heike Mangelsdorf freut sich immer, wenn die ältere Dame aus dem Erdgeschoss zumindest das Frühstücksei isst. Das Toastbrot kommt meistens zurück in die Küche, mit Käse und Wurst braucht man erst gar nicht anzufangen. Dafür aber ein Ei, schön weich in der Mitte soll es sein. Heike, denn hier sind alle Mitarbeitenden beim Du, lässt das Ei sanft in sprudelndes Wasser gleiten und stellt den Timer auf ihrem Handy auf vier Minuten. Ein paar Sekunden länger, wenn es ein besonders großes Exemplar ist.

Von Annika Schmitz

Mit den Sekunden kennt Heike sich aus. 12 Sekunden kommen die Teller in die Mikrowelle, bevor auf ihnen das Essen angerichtet wird; 17 Sekunden die Tassen, in die sie anschließend Kakao oder heiße Milch mit Honig füllt. Warum sie das tut? Heike strahlt. Weil es die Kleinigkeiten sind, die das Leben angenehmer machen. Und darauf kommt es hier an. Denn Heike kocht die letzten Mahlzeiten für die Sterbenden im Hospiz der Caritas in Berlin-Reinickendorf.

Zwanzig Jahre lang war die gelernte Köchin selbstständig, kochte für große Veranstaltungen und in bekannten Restaurants. Seit Herbst letzten Jahres sind ihre Arbeitsutensilien geschrumpft. Töpfe und Pfannen sind nur noch so groß, wie man sie selbst zu Hause in der Küche stehen hat. Der Hunger der 14 Sterbenden im Haus hält sich in Grenzen. Heike richtet die kleinen Portionen auf großen Tellern an, damit sie noch kleiner wirken. Der Anblick von zu viel Essen verderbe den Menschen hier den Appetit, sagt sie.

Was der neue Gast, der gestern Abend eingezogen ist, denn essen wolle, fragt Heike eine Pflegerin. Gäste, so heißen die Menschen in der letzten Lebensphase im Hospiz. Auf Heikes Frage schüttelt die Pflegerin den Kopf. "Präfinal", sagt sie nur. Präfinal, das heißt, die Person wird heute, spätestens morgen versterben. Für gewöhnlich geht Heike sich dann von den Toten verabschieden. "Mensch, jetzt hamse's jeschafft", sagt sie ihnen und freut sich für sie.

Auch Paul Krieg ist von Kaviar zu Kartoffelpüree übergegangen. Zehn Jahre lang tourte der Koch für eine Hotelkette durch Europa. Irgendwann reichte ihm das nicht mehr. "Ich wollte was Sozialeres machen", sagt er. Koch ist er immer noch. Aber irgendwie auch ein bisschen mehr. Oft bringt er den Gästen das Essen selbst vorbei. Bleibt auf ein Pläuschchen. Dann muss die Spargelsuppe eben warten.

Die gibt es nämlich heute zum Abendessen. "Spargel hat zwar grad nicht Saison", gibt Paul zu, "aber es ist halt auch die letzte frische Spargelsuppe." Während er erzählt, klingelt das Telefon. Der Mann auf der ersten Etage, noch gar nicht so alt, sagt Paul, der sein Zimmer jeden Tag noch weihnachtlicher schmückt, hätte gerne einen Glühwein. Paul öffnet die Flasche und schüttet den Inhalt in einen Topf.

Weihnachten ist im Hospiz mit einem zweiten W verbunden: Der Wehmut. Es wird das letzte Weihnachtsfest der Gäste sein. Sie blicken ihm mit der Hoffnung entgegen, es noch einmal erleben zu dürfen. Und mit der Sehnsucht, es im Kreis der Familie verbringen zu können. Wie früher eben - aber ohne Gänsebraten. Viel zu fettig und schwere Kost, sagt Heike. An Weihnachten gibt es Kartoffelsuppe mit Würstchen.

Auch sonst ist der Speiseplan eher bodenständig. Milchreis, Tortellini, Hühnerfrikassee. Heute Mittag gibt es Backfisch. Heike schneidet jedes Filet in drei, vier Stücke. Die Schnittstellen dippt sie in Panade. "Damit es schön aussieht", sagt sie. Dazu gibt es frischen Kartoffelstampf mit viel Butter. Es soll schmecken wie zu Hause. Am Nachmittag zieht eine Ehrenamtliche mit Kaffee und selbst gebackenem Spekulatiuskuchen über den Gang.

Selbstgebacken ist selbstverständlich. Heike und Paul schnibbeln, rühren, mixen, backen, frittieren und kochen alles vor Ort, alles mit frischen Zutaten. Oft bringen sie selbst saisonale Produkte aus dem Supermarkt mit. Das kommt gut an. Extrawünsche gibt es selten. Ab und an mal ein Kalbsschnitzel, ein Rindersteak, ein Matjesfilet. Aber das kommt nur selten vor.

"Bei Heike schmeckt alles", freut sich die alte Dame, die zusammengesunken im Pyjama gekleidet auf ihrem Bett sitzt. Zwischen ihr und Heike gibt es einen munteren Schlagabtausch, als die ihr das Tablett mit dem Frühstück ans Bett stellt. "Tschüss, Heikchen", ruft sie der Köchin zum Abschied zu. Deren Lächeln kann man hinter der Maske nur erahnen. Ihre Augen funkeln belustigt, sie winkt. Dann zieht Heike die Tür hinter sich zu.

(KNA)

Autor:

Beatrix Heinrichs

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