Der Dalai Lama
NEUNZIG

Dein Freund, der Dalai Lama. Zum 90. Geburtstag eines Mannes, der weiß, was Stille bedeutet. Er sitzt irgendwo da oben, jenseits der Bergpässe, auf einem Teppich aus Zeit und Geduld. In seinen Händen: ein Rosenkranz aus Knochen, Gebete, die zu Wind geworden sind. Auf seiner Nase: seine unverwechselbare Brille, die den Schleier zwischen Diesseits und Jenseits mit milder Neugier durchdringt. Er trägt Orange, wie eine reife Frucht, die man nicht pflücken darf. Heute wird er neunzig Jahre alt. Der Dalai Lama. Dein Freund. Auch wenn er deinen Namen nicht kennt. Vielleicht kennt er ihn doch. Vielleicht hat er ihn einmal beim Tee gehört, als ein Yak vorbeiging.

Wenn man durch Tibet reist – nicht den Touristen-Tibet, sondern den inneren, den windumtosten, den, der in einem aufsteigt, wenn man lange genug schweigt – dann wehen dort bunte Fahnen. Rot, Gelb, Grün, Weiß, Blau. Sie flattern an Felsen, an Seilen, an alten Zedern, an neuen Funkmasten. Sie tragen Gebete in die Welt, in alle Himmelsrichtungen, und keiner weiß, ob sie je ankommen. Aber es geht nicht ums Ankommen. Es geht ums Wehenlassen.

Der Dalai Lama hat viel durchgestanden. Als kleiner Junge wurde er auserwählt – oder besser: erkannt. Man führte ihn durch geheime Tests, ließ ihn vertraute Dinge wiedererkennen, die er nie gesehen haben konnte. Dann war er Dalai Lama. Einfach so. Wie wenn ein Junge plötzlich König wird. Nur dass sein Königreich ihm bald genommen wurde. Die Chinesen kamen. Mit Ideologien und Panzern, mit roten Sternen und grauen Herzen. Tibet wurde geschluckt, und die Welt schaute zu, wie immer. Der Junge aber, nun ein junger Mann, blieb ruhig. Er floh, ja. Aber er verlor nicht die Würde. Er brachte Tibet in sich selbst in Sicherheit.

Heute lebt er im Exil, in Dharamsala. Dort laufen die Gebetsmühlen weiter, Tag für Tag, wie das Herz eines alten Mönchs. Er spricht mit Präsidenten, mit Schülern, mit Fernsehmoderatoren. Aber sein Blick bleibt derselbe: wach, freundlich, wissend. Die Art von Blick, bei der man spürt, dass man gemeint ist – auch wenn er tausend andere sieht.

Er trinkt Tee. Er lacht. Er erzählt, dass Mitgefühl keine Schwäche sei. Er sagt Sätze, die man in Marmortafeln meißeln könnte – oder in die Luft schreiben, wo sie am besten aufgehoben sind.

Er hat nie zurückgeschossen. Und darin liegt vielleicht seine Größe. Der Westen hat Helden aus Blut und Stahl. Tibet hat einen aus Geist und Atem. Und das ist keine Romantik, das ist eine andere Art, auf der Welt zu sein.

Wenn wir einmal wiederkommen – vielleicht als Esel, vielleicht als Mönch, vielleicht als Kind mit einem Stein in der Tasche – dann möchten wir Buddhisten sein. Auch lernen zu schweigen, wie er es kann. Und zu lächeln wie er, mit diesem Lächeln, das wie ein alter Ofen wärmt.

Unser Freund, der Dalai Lama, wird heute neunzig. Die Berge wissen es. Der Wind weiß es. Die kleinen flatternden Fahnen wissen es. Und du weiß es nun auch.

Happy Birthday, alter Mann. Du bist die Ruhe im Lärm.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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