Walldorf
Wo Mausohr auf Dohle trifft

Idylle pur an der Radwegekirche: Allein am Außenbau der Walldorfer Kirche gibt es mehr als 100 Einfluglöcher für Dohlen, Turmfalken, Mauersegler, verschiedene Singvögel, Bienen und Fledermäuse. | Foto: Foto: kna-bild/Alexander Brüggemann
  • Idylle pur an der Radwegekirche: Allein am Außenbau der Walldorfer Kirche gibt es mehr als 100 Einfluglöcher für Dohlen, Turmfalken, Mauersegler, verschiedene Singvögel, Bienen und Fledermäuse.
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Auf dem Werra-Radweg zwischen Schmalkalden und der thüringischen Karnevalshochburg Wasungen liegt ein kleines Paradies. Achtlos daran vorbeizuradeln wäre ein Fehler, meint unser Autor.

Von Alexander Brüggemann

Auf einem Felssporn an der Kreuzung zum Rhön-Rennsteig-Wanderweg liegt, dem Blick des Radlers leicht nach rechts oben entrückt, die Kirchenburg Walldorf (Kirchenkreis Meinigen). Soll man absteigen – oder doch "Kilometer machen"? Lieber absatteln! Denn was von außen zwar pittoresk, aber doch ein bisschen kühl und abweisend aussieht, ist tatsächlich ein Ort des Willkommens.

Die Frage, ob er für einen kurzen Blick die Kirche aufschließen würde, ist Pfarrer Otfried Heinrich quasi Befehl – auch wenn er eigentlich gleich einen Termin hat. Aus dem kurzen Blick entwickelt sich schließlich ein längeres Gespräch. Denn die Pfarrgemeinde von Walldorf hat das "Willkommen" in Artikel eins ihrer Kirchenverfassung. Willkommen für Christen und Nichtchristen – aber auch für allerlei Getier der Schöpfung.
Das 1587 als Fliehburg für die Dorfbewohner erbaute Gotteshaus ist Deutschlands erste "Biotop-Kirche". Mit den Werra-Wiesen besitzt der 2100-Einwohner-Ort ein großes Biotop. 2010 fassten die Walldorfer den Entschluss, durchziehenden Störchen eine Nisthilfe anzubieten. Die Wahl fiel auf die Kirchenburg. Doch dann die Katastrophe: Am 3. April 2012 brennt die Kirche lichterloh! Zahlreiche Kunstschätze, viele davon Hunderte Jahre alt, werden vernichtet; die Innenausstattung, einheitlich im Renaissancestil nach 1650 gehalten: verloren.

Die Kirchengemeinde nimmt die Herausforderung an und baut ihre Kirche wieder auf – als Ort für die Gemeinde und Heimat für die Tiere, denen sie Unterschlupf bietet. Schon wenige Tage nach dem Brand kehrten die Dohlen mit ihrem unverkennbaren Ruf zurück. Kurz vor dem Brand hatten sie die Walldorfer Kirche als Brutplatz angenommen. Etwa in den Rüstlöchern: Maueröffnungen, in denen während der Bauzeit der Kirche im 16. Jahrhundert das Gerüst verankert war. "Sie waren die ersten, die neues Leben in die Kirchenruine brachten", so der Pfarrer. Der Entschluss, den Tieren ihre Brutstätten zurückzugeben, war gefasst, die Idee einer Biotop-Kirche geboren.

Auch Fledermäuse, darunter Maus-ohr, Braunes Langohr, Fransenfledermaus und Mopsfledermaus überwintern regelmäßig in den Kellern der Kirche. Über mehrere Monate reduzieren sie ihren Stoffwechsel und zehren von ihren Fettreserven, weil es keine Nahrung in Form von Insekten gibt. Sie dürfen dabei nicht gestört werden, denn jedes Aufwachen verbraucht etwas von den wertvollen Energiereserven. Besonders störend sind offenes Feuer, Licht und Lärm. 2012 flogen aus der lichterloh brennenden Kirche noch Fledermäuse aus und retteten sich in letzter Minute.

"Bauen und Brüten", so hieß dann das Konzept während des Wiederaufbaus. Das Biotop Kirchenburg sollte in dieser Zeit nicht brach liegen. Mittlerweile gibt es – auch durch Förderung der Deutschen Stiftung Denkmal-schutz – allein am Außenbau der Kirche mehr als 100 Einfluglöcher für Dohlen, Turmfalken, Mauersegler, verschiedene Singvögel, Bienen und Fledermäuse. Die Nistplätze sind so gestaltet, dass sie problemlos gereinigt werden können – wo die Tiere das nicht selbst erledigen.

Im Pfarrgarten, der als Bauerngarten gestaltet ist, tummeln sich Insekten und allerlei Getier und bereiten Vögeln und Fledermäusen einen reich gedeckten Tisch. Die Gemeinde hat sich bei der Anlage ganz auf den Speisezettel der Mitbewohner eingestellt: duftende Pflanzen wie Phlox und nektarreiche Sorten wie Malven für die Bienen, die schon seit Jahrzehnten die Sommermonate im Mauerwerk der Kirche verbringen. Entstanden ist eine grüne Oase der Stille, die zum Innehalten anregen und Pflanzen wie Tieren Raum geben soll. Bei so viel Tierischem: Auch der Mensch stand natürlich beim Wiederaufbau im Mittelpunkt. Leitlinie sollte die Zukunftsfähigkeit der Gemeindekirche sein. Sehr symbolisch: Im Zentrum des hell, vielfarbig und ruhig gestalteten Kircheninneren steht ein Altar, der aus Brandbalken besteht.

Und so ist das Gotteshaus, das 2023 auf einer Ein-Euro-Briefmarke erscheinen wird, nicht nur Biotop-Kirche, sondern auch Kletter- und Kinderkirchenburg: Der mit zehn Metern höchste Punkt der Außenmauer ist als Kletterwand nutzbar. Außerdem sind Kinder eingeladen, mehr über das Leben im Einklang mit der Natur zu erfahren.

Tipp

Die Außenanlage der Kirchenburg ist täglich von 10 bis 18 Uhr zugänglich. Kirchenführungen sind auf Anfrage möglich. Am 9. September ist die Andachtsreihe "Berührt – Lebensexperten kommen zu Wort" in Walldorf zu Gast. Ab 19 Uhr berichten Paare und Alleinerziehende über ihr Familienleben.

(kna)

Autor:

Online-Redaktion

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