Nachgefragt
Auf neue Art über Gott sprechen

Über die schwindende Relevanz der Kirchen und die fortbestehende Sehnsucht nach Spiritualität hat der Leipziger evangelische Theologe Stefan Seidel mit 19 Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft gesprochen. Lisa Konstantinidis fragte beim Autor nach.

Ihr Buch „Grenzgänge“ ist eine Sammlung von Gesprächen über die Suche nach Gott in einer Zeit, die Glauben und Religion immer weniger Raum einräumt. Sie haben bewusst auf die Stimmen von Kirchenvertretern verzichtet. Warum?

Stefan Seidel: Ich denke, die Suche nach Gott und die Erfahrungen auf diesem Gebiet haben erst einmal nicht automatisch etwas mit der Kirche zu tun. Das wäre viel zu eng gedacht. Außerdem hat die Kirche derzeit offensichtlich ein Sprachproblem: Ihre Sprechweise vom Göttlichen erreicht nicht mehr viele Menschen, viele erkennen darin keine Relevanz mehr für ihr Leben. Da hat sich vieles entkoppelt. Mir ging es um das Aufspüren ganz unabhängiger, eigenständiger Stimmen, die auf persönliche, freie und unorthodoxe Weise über Glaube, Hoffnung und Liebe sprechen.

Ihre Gesprächspartner berichten von unterschiedlichen Zugängen und Erfahrungen ihrer eigenen Spiritualität. Gibt es dennoch ein einendes Element, das sich gezeigt hat?

Alle Personen haben erkannt, dass nicht mehr von Gott als einer selbstverständlichen Größe gesprochen werden kann, unter der sich jeder etwas vorstellen kann; und dass Religion für viele Menschen ihre Relevanz verloren hat. Gleichzeitig spüren sie alle, dass es eine Verbindung zwischen Himmel und Erde gibt. Alle haben eine Sehnsucht nach dem Göttlichen, nach einem Verbundensein mit etwas Größerem. Sie wissen, dass darüber in einer neuen Art gesprochen werden muss. Daher ist es auch kein Zufall, dass die Mehrheit der Gesprächspartner Autorinnen und Autoren sowie Dichterinnen und Dichter sind.

Sie schreiben, dass Religion heute kaum noch ein sinnstiftender Faktor ist, und dass eine Kluft zwischen Lebensrealität der Menschen und der Kirchen besteht. In welche Richtung kann es unter dieser Prämisse noch gehen?

Ein Stück weit könnte man einstimmen in den Abgesang auf Religion und Kirche, spätestens, wenn jedes Jahr die Zahlen der Kirchenmitglieder verkündet werden. Was aber die Gespräche mit diesen Gottsuchern im Buch gezeigt haben, ist, dass Gott sich jetzt vielleicht eher in individuellen Wegen, in Lebensläufen Einzelner und auch Kunstwerken Einzelner zeigt. Ich denke, sie tragen so auch den Gottesgedanken und das, was wir unter Glaube, Liebe und Hoffnung verstehen, weiter in eine neue Zeit.

Sie diagnostizieren, dass die Aufgaben der Religion „outgesourct“ wurden. Können Sie das erläutern?

Es ist eine der Hauptfolgen der Säkularisierung, dass viele gesellschaftliche Aufgaben, die in vormoderner Zeit selbstverständlich von der institutionalisierten Religion geleistet wurden, in die weltliche Gesellschaftsorganisation übergegangen sind – unter anderem Bildung oder die Gesundheitsversorgung. Heute sind Kirchen nur noch für das Mystische, das Spirituelle und das geistliche Leben zuständig. Manche beklagen das als gehörigen Bedeutungsverlust.

Dabei ist es meiner Meinung nach eine große Befreiung, dass sich Religion so wirklich um die innere Verbundenheit mit dem göttlichen Geheimnis kümmern kann. Was aber nicht heißt, dass Religion nur eine private Sache des Einzelnen und seines Seelenfriedens ist. Die Gespräche im Buch zeigen beispielsweise, dass aus der Verbundenheit mit der Gotteskraft oft ein Antrieb erwächst, sich gesellschaftlich zu engagieren und für die Schwachen oder die leidende Schöpfung einzutreten. Am Ende glaubt man nicht nur für sich selbst, sondern in einer großen Gemeinschaft von allem, was lebt.

(epd)

Seidel, Stefan: "Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen", #%Claudius Verlag, 296 S., ISBN 978-3-532-62880-5; 26,00 Euro

Autor:

Online-Redaktion

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