... der Brief ...
Leberecht Gottlieb (57)

57. Kapitel - Leberecht Gottlieb verfasst mit Hilfe des im Turmalinzimmer zu Siwa erschienenen Geistes einen längeren Brief, der die Kraft besitzt, viel verändern zu können - wenn nicht sogar alles.

Bald hatte der Geist einen Stuhl herangerückt und sich neben Leberecht Gottlieb gesetzt. Von dort aus sprach er langsam und deutlich und begleitete seine Worte mit schwachen aber eindeutig gebietenden Gesten, wie wenn alte Konzertmeister, die dem Tode bereits nahe zu sein scheinen, noch einmal ihr Orchester dirigieren. "Ich weiß, o Fremder" sagte er "was Euch bedrückt. Wir von da unten wissen viel, aber können kaum helfen. Wenn wir vom Zukünftigen etwas verraten, dann tritt immer das Gegenteil davon ein. Deshalb müssen wir unseren Rat in Orakelsprüche hüllen, die sowohl bejahend als auch verneinend interpretiert werden können. Sagte ich zum Beispiel, die jetzige Regierungspartei in eurem fernen Sachsenland gewönne morgen die Wahl, würde sie dieselbe verlieren müssen. Sagte ich dagegen, dass sie sie gewönne, verlöre sie das Spiel. Hier ist viel Konjunktiv mit im Spiel. Deshalb ging vom Himmel her der Rat an Euch, die Toten nicht herzitieren zu wollen. Unser Rat bringt also meistens mehr durcheinander, als er hilfreich sein kann. Aber wir können auch nicht verhindern, dass Ihr uns befragt - je mehr wir es verhindern möchten, um so mehr rennt ihr uns die Bude ein. Drängen wir uns euch aber auf, dann glaubt ihr unseren Zeichen nicht. Das ist das Gesetz, dass Eure Welt von unserer abscheidet."

Während der Geist dieses und noch viel mehr berichtete, saß die Totenbeschwörerin an ihrem Platz und nickte mit traurigem Gesicht. Leberecht war sonderbar zu Mute - er konnte nicht davon ablassen, wissen zu wollen, ob es nicht doch einen Weg gäbe, die unmittelbare Zukunft am morgigen ersten September zu eigenen Gunsten beeinflussen zu können. Und so stellte er endlich seine Frage: "Gibt es Rettung?"

Der Geist bejahte solches - freilich erst nach einigem Nachdenken. Dann fügte er hinzu: "Seid Ihr denn auch bereit, den Preis zu zahlen? Bei Preis geht es hier aber nicht um Dollarnoten oder gar einen Eurobetrag. Es geht um Eure Seele verehrter Herr Pastor. Ist Euch die Kirche wirklich so wichtig - oder das Sachsenland? Ihr würdet euch, wenn Ihr von hier aus mit uns im Bunde handeltet, in den Hergang der Ereignisse so fest mit solchen Machttaten einbinden lassen, dass Ihr nie wieder daraus frei kämet. Schon, dass Ihr an dieser Wahl überhaupt teilnehmt und Euer Kreuzchen bei dieser oder jener Partei setzt, verwickelt Euch auf ewige Zeiten in einen Schuldzusammenhang, aus dem ihr nie wieder euch werdet lösen können. Am besten wäre, Ihr ginget da gar nicht hin - das wäre das Allerbeste. Aber, da ich Euch Solches rate, werdet Ihr natürlich das Gegenteil beginnen müssen. Wenn ich aber nichts riete, würde …

An dieser Stelle unterbrach Leberecht den Geist und erklärte, dass er morgen zu dieser Wahl gar nicht gehen könne, weil die Rückreise von Ägypten bis nach Dresden in so kurzer Zeit nicht zu absolvieren wäre. Schließlich meinte Aischa Endorita, Leberecht möge doch kurzerhand einen Brief schreiben und denselben möglichst weit sich verbreiten lassen. Da gäbe es wohl eine Chance, dass der etwas bewirke. Der Brief müsse aber so neutral wie möglich formuliert werden. Wie ein Orakelspruch. Die Frau hatte Recht. Frauen haben oft Recht. Oft auch gar nicht. So ist das eben. Auch in der Welt der Totenbeschwörerinnen.

Und nach einigem Hin- und Her steckten die drei ihre Köpfe zusammen und es entstand jener Brief, den Leberecht Gottlieb über die verschiedensten Social Media Kanäle und alle möglichen Foren per Klick und Klack auf der nördlichen Erdhalbkugel sich lawinenartig ausbreiten ließ. Man war bei der Abfassung des Briefes übereingekommen, dass er etwas antiquiert daher kommen müsse, damit er auf keinen Fall als ernst gemeinte Beeinflussung aufgefasst werden könne. Dieser Brief müsse wie aus einer anderen Zeit kommend ausschauen.
Und so entstand - langsam, aber sicher - das im Folgenden hier preisgegebene Schreiben, welches die drei Ver- oder Beschwörer mit Lachen und gegenseitiger Beglückwünschung schließlich zu Stande brachten. Dann aber schlug es Mitternacht und der Geist hatte in die Tiefen der Scheol zurück zu fahren. Ob er denn Samuel oder Winnetou gewesen wäre, fragte Leberecht noch - wurde aber vom Geist daraufhin nur mitleidig angeschaut. Dessen Gestalt gewordene Wirklichkeit vereinte sich gemächlich mit dem Gestein des Turmalinzimmers und war mir nichts dir nichts - verschwunden.

Auch der Trank der Aischa Endorita ließ in seiner Wirkung bei Leberecht nach. Beide Herrschaften wurden nun derartig müde - und als die Morgensonne nahte, fand er die eine entseelt auf dem Steinfußboden liegen, Leberechten aber begrüßte der Planet, welcher schon hoch am Himmel fuhr, mit glänzendem Strahl. In der fernen Gegend Saxonia et urbi et orbi hatte der erste Septembertag längst begonnen und die Leute strömten aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, aus Handwerks- und Gewerbestuben in winzige stoffumspannte Zellen, wo sie auf den Wahlscheinen ihre Kreuze machten. Kleine Kreuze, damit irgendwelche am Abend elektierten Leute das ganz große Kreuz würden aufnehmen müssen, mit Blick auf welches lange vor ihnen schon König Friedrich August 1918 gesagt haben soll: „Macht euern Dreck allene!” Einige - wie viele weiß bis auf den heutigen Tag niemand - hatten bei Facebook, TikTok, Instagram, Whatsapp (oder wie sie sonst noch alle heißen mögen) jenen Brief gelesen, der formal ausgearbeitet worden war, als wollte igend jemand aus der Zeit Karl Mays die Dresdener Kirchenbehörde brüderlich ermahnen. Hier lest ihr diesen Brief:

Hochwürdig ehrenwerte Herren!
seit geraumer Zeit werden Eure Diener am Worte des HERRN nicht selten befragt, ob denn unsere Kirche keine wichtigeren Aufgaben und Anliegen hätte, als sich an der Partei derer schweflichten Brüder abzuarbeiten. Selbstkritisch stellen sich einige der unsrigen Amtsbrüder inzwischen dieselbe peinliche Frage. Denn für unsere Kirche als communio sanctorum und Stellvertreterin Christi auf Erden sind die Schwefler recht eigentlich gar kein Problem, denn diese Leute ließ der HERR im Osten des Vaterlandes nicht etwa aus sich selbst heraus zur nunmehr stärksten oder zumindest zweitstärksten politischen Kraft aufdringen. Im Gegenteil - die conventicel der Besagten wuchsen in Stadt und Land deshalb stark an Menge und Zahl, weil sehr viele Menschen ihnen das Vertrauen schenken.

Unserem Erachten nach wäre es Aufgabe der regierenden Obrigkeit, allerlei Ursachen für solch fatale Auswahl eifrig und ehrlich zu erkunden. Ebenso bleibt es Aufgabe derer, die den res politici gebieten, künftig anders zu regieren, so dass die Schwefler in Zukunft nicht mehr als alleinrettende Alternative betrachtet werden müssten.

Diese Aufgabe kann der Obrigkeit nicht von der ewige Kirche Iesu Christi abgenommen werden. Im Gegenteil - unser Auftrag besteht darin, evangelium rein zu verkündigen und sacramenti unverfälscht allen Seelen darzureichen. Dieses muss jenseits jeder Ausrichtung in politicis geschehen, welchen die Leute anhängen oder nicht. Ansagen der Kirchensynoden, dass die Unsrigen jene Schwefler nicht wählen sollten, sind wohl sicher gut gemeint - werden aber das Gegenteil kräftigen. Denn die Menschen werden sich durch solche von Seiten der Kirche ersonnenen Kanzelworte bevormundet fühlen - und ihre Wahl trotzdem nach Gutdünken treffen, ohne dass sie dadurch dem Glauben und der Kirche entsagen, nur weil ihre Wahl nicht den Vorstellungen jener Gremien entspricht, welche ihr hartes „damnati sint” verlautbaren lassen.

Wer dem christgläubichten Wahlvolk nahelegt, eine bestimmte Parteiung n i c h t zu wählen, müsste der nicht ebenfalls angeben, welch andere Gruppe die Menschen stattdessen wählen sollten? Dass die Heuchler mit ihren zwei Helfershelferinnen, welche gegenwärtig mit knapper Not das Szepter kaum noch zu halten vermögen, chancenlos bleiben - solange die Erinnerung an alle von ihnen zu verantwortenden Desaster (darunter auch das Erstarken der Schwefler) lebendig ist - liegt auf der Hand. Das alte Zentrum? Nun - dasselbe hat vor zehn Jahren in seinen programmatica genau solche Ansagen gemacht, welche den heutigen Worten der Schwefler auf’s Haar gleichen - hier und da ist man sogar schon dabei, die lauthals Verabscheuten auf der rechten Spur überholen zu wollen. Blieben uns noch die Sozialisten, und das Bündnis von einigen (zugegeben klugen) Frauen und deren Knechten, welche den Wagen stützen helfen. Soll das die Wahlempfehlung unserer Kirche sein?

Hochwürdigste! Eine Wahlbeeinflussung - ganz gleich welcher Art - wird keinen Erfolg haben. Im Gegenteil - es wird unserer Kirche großen Schaden eintragen, wenn sie die Gläubigen sich politisch einseitig zu positionieren anstacheln will und die wenigen noch Christlichen aus bestimmten Meinungen zu drängen versucht. Wir Brüder alle haben damals bei der Ordination versprochen, Schaden von der Kirche abzuwenden. Auch mit den hier vorgelegten Gedanken wollen wir diesem Versprechen nachkommen. Politik ist ein Geschäft, das keinen, der es ausführen muss, im Zustande der Reinheit von sich wieder entlässt. Für die Obrigkeit darf und muss man beten. Das steht auf einem ganz besonderen Blatte aufgeschrieben. Das ist unsere Aufgabe. Auch haben wir bekanntlich so große eigene Probleme, dass deren Lösung alle Kraft herausfordert. Wir sollten uns auf unsere Kernaufgabe besinnen. Und müssen zu dieser zurückkehren. Zudem sollten wir wirklich von all dem lassen, was uns als politische Parteiung oder Dienstmagd solcher Kräfte lesbar macht, welche dreißig Prozent des Wahlvolks im Osten Deutschland verunglimpfen zu dürfen meinen und verächtlich machen.

Carissimi - lasst uns brüderlich zusammenstehen wie einst, als der Meister noch mit uns am See Genezareth wandelte und manchen der Heuchler bekehrte, lasst uns bei aller Verschiedenheit beieinander bleiben und uns nicht gegenseitig für minderwertig erklären.

Der HERR sei mit Euch …
tres humbles Leberecht Gottlieb (Pfr.i.R.)
derzeit in Siwa weilend (i.e. Ägypten)

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Alles und noch mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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