Berlinale
Religiöses und Übersinnliches als Leitmotiv

Foto: epd-bild/Hans Scherhaufer

Kein Ausweg, nirgends. Das Schicksal bietet keine Chance zur Flucht: Linda, Mutter eines schwer erkrankten Kindes, möchte ihrem Beruf als Therapeutin nachgehen. Sie will ein normales Leben führen, doch dafür ist es längst zu spät. In seiner Unausweichlichkeit erinnert Mary Bronsteins Film "If I Had Legs I'd Kick You" ("Hätte ich Beine, würde ich dich treten") an die katastrophale Dynamik aus Schuld, Angst und Ohnmacht in den Romanen Franz Kafkas.

Von Hans-Joachim Neubauer (KNA)

Auch für Linda scheint es keine Rettung zu geben: Die Krankheit der Tochter verschlimmert sich rapide, im Schlafzimmer birst die Decke, Wassermassen verwüsten die Wohnung, ihr Mann ist seit Wochen abwesend, die Beziehung zu ihrem Supervisor gerät aus den Fugen, eine ihrer Klientinnen dreht durch. Grund genug für einen Amoklauf, doch Linda schlägt nicht um sich. Stattdessen hat sie seltsame, immer wieder beängstigende Visionen und Träume von sphärischen Welten. Alles hängt zusammen mit ihrer Tochter und dem Loch in deren Bauch.

Markantes Leitmotiv

Das Übersinnliche bildet ein markantes Leitmotiv der diesjährigen Berlinale. Ob in der geradezu apokalyptischen Überlastung einer Mutter oder den telepathischen Fähigkeiten eines jungen Mädchens in "Was Marielle weiß" (Buch und Regie: Frédéric Hambalek) - immer wieder erscheinen Kinder als die Boten einer anderen Welt.

Am eindrucksvollsten wird dies in "El Mensaje" ("Die Nachricht"), dem Wettbewerbsbeitrag des Argentiniers Ivan Fund. Das in Schwarz-Weiß gedrehte Road Movie erzählt von Anika (Anika Bootz), die die Gabe hat, mit Tieren zu kommunizieren. Wir sehen sie mit einem Igel in den Händen, neben einem Pferd oder im stillen Austausch mit einer Angorakatze. Ihre Großeltern, mit denen sie über Land reist, begreifen Anikas "Telepatia Natural" als Geschäftsmodell.

So entsteht eine kleine, aber glückliche Verbindung dreier Menschen. Wir ahnen, welche Traumata hinter ihnen liegen. Wenn wir Zeugen werden, wie Anika den Tieren zuhört, die wir nicht vernehmen können, öffnet sich so etwas ein Spalt in der Realität: Im unbekümmerten Lachen des Mädchens deutet sich an, dass es wohl etwas geben muss, das größer ist als diese Welt. Einmal wird sie vor dem Werbeschild eines Haustierfriedhofs fotografiert: Mit dem Finger zeigt sie auf den Namen der Einrichtung: El Cielo (Der Himmel).

Transzendentes Potenzial

Immer wieder sind es die Kinder, die mit ihren besonderen Fähigkeiten den Blick auf die Mängel der Verhältnisse lenken; zugleich weisen sie die Richtung auf eine andere Seite der Wirklichkeit. Sie haben, was den Erwachsenen fehlt, einen Kompass, dem sie folgen können. Ihre besonderen Kräfte sind dabei nicht Science-Fiction oder Fantasy: Das Undenkbare ist Teil einer allgemeinen, für alle verbindlichen Wirklichkeit. Die Kinder passen nicht ganz in das, was wir zu ihrer Realität gemacht haben.

In einer Welt, die das Religiöse ausgeschlossen hat, fragen diese Filme: Was bleibt? Ohne das transzendente Potenzial der Kinder bliebe die Welt so, wie sie ist, gefangen in ihrer Tristesse, Kälte und Not. "Ihr seid die Zukunft", ruft ein Soldat den Kindern in dem ukrainischen Dokumentarfilm "Strichka chasu" (Timestamp) von Kateryna Gornostai zu. "Wir leben für euch." Über zwei Stunden lang führt der Film durch ukrainische Schulen zu Zeiten des Krieges. Mit großer Sorgfalt und Genauigkeit nähert sich Gornostai den Kindern und ihren Lehrerinnen; Lehrer gibt es nur sehr wenige.

Wir werden Zeuge, wie eine Generation von Kindern versucht, im Grauen der Gegenwart nach vorne zu blicken. Es gibt fast normalen Unterricht in Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Kunst. Immer wieder drängt sich jedoch der Krieg in den Alltag: Schießübungen, Militärsport, Bombenalarm, Unterricht im Schutzraum. In einem der ergreifendsten Momente des Films zeigt die Lehrerin an einer Schule im Osten der Ukraine ihren Schülern Bilder von Plüschtieren, die mit Sprengstoff versehen sind. "Danger, danger", skandieren die Kinder. Lernen heißt nicht nur Leben, Lernen heißt Überleben.

Folgt den Kindern!

Hier ist die Katastrophe gegenwärtig, objektiv, real. Sie erfasst das Leben jeden Kindes. Die Religion versucht, so etwas wie Trost zu spenden. Am Sarg der bei einem russischen Angriff in ihrer Schule ermordeten Direktorin werden die Worte des Priesters zu einer bitteren Anklage gegen die Aggressoren. Das ist Religion, das ist auch Politik, übersinnlich ist daran nichts.

Gornostai zeigt, was die Lehrerinnen leisten, die im Schrecken des Kriegs dafür arbeiten, dass ihre Schülerinnen und Schüler eine Zukunft haben. In jeder Szene wird klar, dass die Kinder der Ukraine für die Hoffnung stehen, ohne die dieses Land längst untergegangen wäre. Wenn es etwas gibt, was diese Berlinale zusammenhält, dann ist es die Aufforderung, den Kindern zu folgen. Sie wissen, was wir alle brauchen.

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Online-Redaktion

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