FILMEMPFEHLUNG
PERSISCHSTUNDEN

Der Film „Persischstunden“ (Persian Lessons, 2020) erzählt die Geschichte von Gilles Crémieux, einem jungen belgischen Juden, der 1942 von der SS verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert wird. Auf dem Transport entkommt er dem sicheren Tod, indem er vorgibt, kein Jude, sondern ein Perser zu sein. Der Lagerkoch und SS-Offizier Klaus Koch, der nach dem Krieg nach Persien auswandern möchte, zwingt ihn, ihm die persische Sprache beizubringen.
Das Problem: Gilles beherrscht kein Wort Farsi. Er hat wenige Minuten vor der Erschießung mit einem anderen Gefangenen Brot gegen eine persische Grammatik getauscht. Dieses Buch nun rettet ihm das Leben. Notgedrungenermaßen erfindet Gilles kurzerhand eine „Sprache“, die er in mühsamer Gedächtnisarbeit dann auch über Jahre systematisiert. Jedes neue Wort, das er dem Offizier Koch beibringt, ist in Wahrheit ein Name – es sind schließlich alles die Namen der ermordeten Häftlinge, die er in eine Art Sprachgedächtnis einschreibt. So entsteht über die Jahre ein gewaltiges imaginäres Lexikon von über 2.800 Namen.
Am Ende, nach der Befreiung des Lagers durch die Alliierten, wird Gilles verhört. Um seine Identität und sein Überleben zu erklären, spricht er die Wortliste. Damit offenbart er, dass er nicht nur überlebt hat, sondern auch die Namen der Toten bewahrt – die eigentliche Essenz seines erfundenen Farsi.

Sprache ist in diesem Film nicht nur Kommunikationsmittel, sie ist ein architektonisches Heiligtum des Gedächtnisses. Gilles verwandelt flüchtige Sprachlaute zu Speicherzellen, in denen das Leben der anderen weiterbesteht. Jeder ermordete Mensch wird durch ein „Wort“ in die Ewigkeit eingetragen. Hier geschieht, was die Philosophen der Schriftkultur immer ahnten: das Alphabet ist göttlich, weil es Menschen erlaubt, über den eigenen Körper hinaus zu existieren.

Im Mythos des Turmbaus zu Babel ist Sprache auch Strafe – Zersplitterung. In "Persischstunden" erscheint Sprache als Rettung – Sammlung. Gilles baut einen Turm nicht aus Ziegeln, sondern aus Lautzeichen, und jeder Baustein trägt den Namen eines Ermordeten. Der Turm wird nie vollendet, aber er ragt über das Lager hinaus in eine unsichtbare Bibliothek des Ewigen.

Die Lüge – er sei Perser – wird so zum paradoxen Wahrheitsdienst. Denn das „Farsi“, das er konstruiert, ist realer als die Gewalt der SS: es wird zum Zeichenleib der Ermordeten. Sprache wird hier zur Auferstehungsmaschine. Sie hebt die Namen aus dem Staub der Geschichte und schreibt sie in eine Sphäre, die keine Kugel, kein Lager, kein Mordkommando mehr erreichen kann, als die Listen vor den herannahenden Alliierten verbrannt werden.

Hier zeigt sich die Sprache als geheime Bildung einer Welt-In-Welt-Sphäre. Im infernalischen Raum des Lagers baut Gilles eine „Innenwelt aus Lauten“, in der er und die Getöteten atmen können. Das improvisierte Idiom ist keine Linguistik, sondern eine Pneumatik: Jeder Name, der in ein Pseudo-Wort übersetzt wird, ist ein Atemzug, eine Fortsetzung des Lebens im Klang. Mythologisch gesehen knüpft der Film an die Vorstellung vom "Buch des Lebens" an. In der jüdisch-christlichen Tradition ist Gott der Schreiber, der die Namen der Gerechten einschreibt. Gilles wird zum menschlichen Syncreator, der dieses Buch schuf und in sich trägt. Sein Gedächtnis ist die tragbare Arche, die nicht Tiere, sondern Namen rettet.

Die letzte Szene – Gilles spricht die 2.800 „Vokabeln“ – ist ein liturgischer Akt. Er rezitiert keine Fremdsprache, sondern eine Totenmesse aus den Namen, die den Ermordeten ihre Würde zurückgibt. Das Persische, das keines ist, erweist sich als die Chiffre und wahre Lingua Sacra: eine Sprache, die nicht verstanden werden muss, weil sie nicht semantisch, sondern memorial funktioniert. Damit steht der Film in einer großen Genealogie: Orpheus, der mit Gesang die Unterwelt aufreißt; Hermes, der die Seelen begleitet; die biblischen Propheten, die Namen aussprechen, um Menschen in der Erinnerung Gottes zu verankern. Gilles, der falsche Perser, ist ihr moderner Bruder. Seine erfundene Sprache ist ein Gegen-Babel, ein Alpha-Bet, das nicht trennt und in alle Winde zerstreut wie zu Babel, sondern eint: die Lebenden und die Toten in einem einzigen Lautstrom.

Kurz gesagt: Persischstunden zeigt, wie Sprache das Gedächtnis des Lebens selbst wird – wie sie den Menschen über die Grenze seines Leibes hinausträgt in das Reich des ewigen Sinns, aus dem alles geworden ist: das göttliche Alphabet, in dem kein Name je verloren geht.

Nur zur Vollständigkeit: Der SS-Offizier Klaus Koch, der Lagerkoch, bekommt im Film Persischstunden kein „großes Nachspiel“. Er überlebt die Kriegsjahre im Lager und ist bis zuletzt überzeugt, dass er durch Gilles’ Unterricht „Farsi“ gelernt hat und damit eine Zukunft in Persien haben wird. Mit der Ankunft der Alliierten zerfällt sein Traum an der Grenze abrupt. Seine Pläne lösen sich in Nichts auf. Das Ende des Films zeigt ihn nicht mehr als handelnden Akteur. Koch wird gefangen genommen und verschwindet in der Bedeutungslosigkeit. Er bleibt ein Täter, aber ohne dramatisches Finale, ohne heroische oder dämonische Geste. Sein Schicksal interessiert die Erzählung nicht – es zählt allein, dass Gilles überlebt und das Gedächtnis der Namen in sich trägt. Man könnte sagen: Der Film und seine Geschichte entzieht dem Täter die Bühne und übergibt sie den Opfern ....

Autor:

Matthias Schollmeyer

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