Kein Alleinstellungsmerkmal

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Sind Christen die am stärksten unterdrückte Glaubensgemeinschaft? Das wollte Philipp Greifenstein von Enno Haaks, dem Generalsekretär des Gustav-Adolf-Werks, wissen. Er sprach mit ihm über Christenverfolgung, die Situation bedrängter Christen und die Religionsfreiheit an sich.

Was ist eigentlich Christenverfolgung?
Enno Haaks:
Im Kontext der evangelischen Kirchen erinnere ich an den Bericht des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber vor der EKD-Synode 2008. Damals sagte er, dass wir aufmerksamer hinschauen müssen, wenn Christen aufgrund ihres Glaubens bedrängt oder verfolgt werden. Der Sonntag Reminiszere wurde 2010 als Gedenktag für bedrängte und verfolgte Christen festgelegt, bei den Katholiken hat der Stephanustag, also der 2. Weihnachtsfeiertag, eine große Bedeutung. Wir haben das damals als Gustav-Adolf-Werk aufgenommen und einen Fonds für bedrängte und verfolgte Christen aufgelegt.
Christenverfolgung als Begriff ist sehr komplex. Im Ökumenischen Bericht der EKD wird mit dem Verfolgungsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention gearbeitet. Im Grunde heißt das: Man wird verfolgt, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, oder wenn man aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Religion, Ethnie oder sozialen Gruppe vom Staat nicht geschützt wird.
Wann beginnt Verfolgung? Wann sollte man eher von Bedrängung oder Bedrückung sprechen? Ich meine, die Rede von Christenverfolgung sollte letztlich für solche Situationen vorbehalten bleiben, wo wir deutlich mehr sehen als verbale Beleidigungen oder Diskriminierungen, wo Christen tatsächlich um ihr Leben oder ihre Gesundheit fürchten müssen. Wir brauchen hier wirklich die Differenzierung, um den jeweiligen Situationen auch gerecht zu werden.

Es gibt aber sehr wohl Christenverfolgung, zum Beispiel in Syrien.
Ja, da denke ich natürlich an das Einflussgebiet des Islamischen Staats (IS) und anderer islamistischer Milizen. In Rakka gab es zum Beispiel eine, wenn auch kleine, christliche Minderheit. Nach dem IS haben dort nur eine Handvoll Christen überlebt.
Zum Lagebild gehört aber auch, dass mir unsere Partner aus den christlichen Kirchen in Syrien sagen, dass sie vor allem durch den Krieg bedroht sind. Das gilt für die gesamte Bevölkerung. Dort wo die Assad-Regierung herrscht, können sich Christen sicher fühlen, solange sie sich nicht politisch äußern. Es gibt in Syrien christliche Schulen und Altenheime und ein Gemeindeleben.
Und: Nicht nur Christen werden wegen ihres Glaubens bedrängt und verfolgt. In manchen Ländern wie in Myanmar oder China werden Muslime noch stärker als Christen eingeschränkt oder verfolgt. Es gibt verfolgte Buddhisten und Hindus. Hindus verfolgen wiederum Christen.
Verfolgt zu werden ist kein christliches Alleinstellungsmerkmal. Das Thema muss im Kontext der Missachtungen und Verletzungen der Religionsfreiheit und anderer Menschenrechte gesehen werden.

Wir haben es ja im Falle Deutschlands mit einem demokratischen Rechtsstaat zu tun, in dem es ein Neutralitätsgebot gegenüber den Religionsgemeinschaften gibt. Gleichzeitig fordern Christen, dass die Bundesregierung sich für den Schutz von Christen in anderen Ländern einsetzt.
Das darf sie so einseitig jedenfalls nicht. Deutschland engagiert sich aber sehr wohl gegen die Einschränkung der Religionsfreiheit und gegen Menschenrechtsverletzungen. Denn dort, wo die Religionsfreiheit beschnitten wird, werden auch andere Menschenrechte eingeschränkt, etwa Bildungsrechte. Ich glaube, die Bundesregierungen haben in den vergangenen Jahren verstanden, dass Religions- und Glaubensfreiheit im Zentrum dieses Engagements stehen müssen.
Hat die zunehmend religiös „unmusikalische“ Gesellschaft in Europa zu lange weggeschaut?
Das kann man so sagen, ja. Wir sind alle erschüttert über den religiösen Fundamentalismus, der aber auch jahrelang ignoriert wurde. Den Fundamentalismus gibt es übrigens nicht allein im Islam, sondern auch im Christentum, im Hinduismus.


"Die Rede von Christenverfolgung sollte für Situationen vorbehalten bleiben, wo wir deutlich mehr sehen als verbale Beleidigungen oder Diskriminierungen"


Liegt in dieser „religiösen Unmusikalität“ auch begründet, dass man die Gewalt von Islamisten und islamistischen Regimen gegenüber religiösen Minderheiten so vorsichtig thematisiert? Mein Eindruck ist, dass man das Thema fast vollständig den Evangelikalen überlässt.
Wie wir sehen, ist das Thema wahnsinnig komplex und verlangt eine gründliche Differenzierung. Das große Problem der Debatte ist die Vereinfachung. Im Falle des „Weltverfolgungsindex“ von OpenDoors stört mich zum Beispiel die Engführung auf ganze Staaten.
Es stimmt einfach nicht, dass Christen in ganz Syrien verfolgt werden. Sie sind aufgrund der wirtschaftlichen und der fehlenden Lebensperspektiven auch dort bedrängt, wo sie keiner Gewalt durch Islamisten ausgesetzt sind, das stimmt. Aber das Bild ist eben komplex. So ist es auch in Kasachstan, Kirgistan oder in Kolumbien.

Es stimmt auch nicht in Nigeria, wo wir gleichzeitig zu Verfolgungen und Bedrängungen von Christen eine sehr aktive christliche Rechte haben, die aus den USA unterstützt wird und z. B. gegen Frauenkliniken Front macht.
Ja, es gibt in unserer Zeit eine große Sehnsucht nach Vereinfachung und klaren Botschaften. Die bietet natürlich ein solcher „Weltverfolgungsindex“. Die Kirchen der Reformation neigen auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte heraus inzwischen zum Differenzieren und Nachfragen und scheuen sich vor Vereinfachungen. Deshalb haben die großen evangelischen Kirchen da selten griffige Überschriften zu bieten.
Der Hang zu Vereinfachung und Vereindeutigung vergiftet das Miteinander der Religionen weltweit – und Christen sind daran bei weitem nicht unschuldig! Wenn wir uns einmal anschauen, wie sich evangelikale Pfingstkirchen in Brasilien, in afrikanischen Ländern, aber eben auch in den USA positionieren, dann sieht man, dass darin natürlich religiöse Konflikte angelegt sind. Religiöser Fundamentalismus lässt den Glauben des Anderen nicht gelten. Wir haben in Europa, so meint man, über Jahrhunderte und nach vielen Kriegen gelernt, den Glauben des Anderen gelten zu lassen, auch wenn er mir nicht passt.

Was kann man gegen den religiösen Fundamentalismus tun, der ganz offensichtlich für den Großteil der gegenseitigen Verfolgungen und Bedrängungen von Gläubigen verantwortlich ist?
Wir müssen massiv in die religiöse und weltanschauliche Bildung investieren. Grundlage dafür ist die Erkenntnis, dass Religionsfreiheit als Menschenrecht an die Wahrung anderer Grundrechte wie Bildung und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geknüpft ist.
Es ist kein Zufall, dass sich die evangelischen Diasporakirchen schon seit jeher mit Schulen einen guten Namen gemacht haben. Die evangelischen Christen sind als Missionare in die Welt hinausgegangen, auch in muslimische Länder. Als sie gesehen haben, dass das mit der Mission so einfach nicht ist und auch zu Konflikten mit den ansässigen Religionen und anderen christlichen Konfessionen führt, haben sie sich darauf verlegt, Schulen und Krankenhäuser zu gründen, die allen Menschen zugänglich sind, die dort leben – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religion oder Bevölkerungsgruppe.

Enno Haaks war acht Jahre lang Pfarrer in Chile, bevor er 2010 General-sekretär des Diasporawerks der EKM, des Gustav-Adolf-Werks, in Leipzig wurde. | Foto:  Christian Modla
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Online-Redaktion

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