Tschechien
Das Wunder von Brünn

Foto: epd-bild/Kilian Kirchgeßner

Das Stetl-Festival in der tschechischen Stadt Brünn ist in kurzer Zeit zu einem der größten jüdischen Kulturfestivals in Mitteleuropa geworden. Dieses Jahr steht die lange vergessene Villa des ermordeten jüdischen Ehepaars Wittal im Mittelpunkt.

Von Kilian Kirchgeßner

Der Drahtzaun war rostig, und einen Moment lang überlegte Michal Dolezel, ob er sich von dem Warnschild abhalten lassen sollte. «Vorsicht Hund» stand auf Tschechisch darauf. Dolezel schaute über den Zaun auf die alte Villa, so erzählt er es, er achtete nicht auf die schmutzige Fassade und die uralten Fenster, sondern sah den markanten runden Turm im Vordergrund, die funktionalistischen Formen, die auch nach fast einem Jahrhundert modern wirken. «Und dann bin ich einfach in den Garten rein», sagt Michal Dolezel heute, «die Neugier hat gesiegt.»

Dolezel ist Hobby-Historiker, er interessiert sich für alte Villen in der zweitgrößten tschechischen Stadt Brünn (Brno), für ihre Baugeschichte und vor allem für ihre früheren Bewohner. Und was er hier auf dem Hügel hoch über der Stadt entdeckte, verschlug ihm den
Atem: Niemand hat offenbar über all die Jahre an der Villa gewerkelt, die 1932 nach einem Entwurf des Architekten Heinrich Blum gebaut wurde. Im zugewucherten Garten war selbst der Swimmingpool noch da, meisterhaft integriert in die Landschaft aus Hecken und Sandsteinstufen.

Über der Terrassentür, die von der Gartenseite ins Haus führt, prangte schmiedeeisern, in verschnörkelter Schrift, der Buchstabe W - ein letzter Hinweis auf die jüdische Familie Wittal, die das Haus einst errichten ließ. 1939, nach der Besetzung des Landes durch die Nationalsozialisten, verloren die Wittals ihr Haus und ihre Textilfirma. Johann und Friederike Wittal wurde 1942 deportiert und im Konzentrationslager ermordet, nur eine erwachsene Tochter überlebte den Holocaust.

Ende August wird die Villa nun für ein paar Tage im Rampenlicht stehen: Sie wird Schauplatz des Stetl-Fests - ein jährliches Festival, mit dem Brünn sein jüdisches Erbe wiederbeleben will. «Die Besonderheit ist, dass es nicht einfach ein Festival über jüdische Kultur ist, sondern ein Festival, das direkt aus der jüdischen Community kommt», sagt der Brünner Rabbiner Stepan Menashe Kliment: «Alle Programmpunkte hängen mit dem jüdischen Denken, mit der jüdischen Wahrnehmung von Identität und Kultur zusammen.»

Dieses Jahr findet es zum vierten Mal statt: Konzerte, Ausstellungen, Führungen, Diskussionen; rund 130 Veranstaltungen zwischen dem 27. und 31. August. Die Mischung aus Geschichte, Lokalkolorit, Kultur und Versöhnung beim Stetl-Festival hat ein kleines Wunder vollbracht: Innerhalb weniger Jahre ist es nach Angaben der Veranstalter zu einem der größten jüdischen Festivals in Mitteleuropa geworden, das weit über die Region hinaus ausstrahlt.

Die Villen der einstigen jüdischen Brünner Familien spielen dabei eine tragende Rolle, es gibt Führungen und Ausstellungen. Denn vor dem Zweiten Weltkrieg, vor Holocaust und NS-Verfolgung, waren jüdische Familien maßgeblich an der Stadtentwicklung beteiligt: Kaufleute, Industrielle, Wissenschaftler. Bis heute prägen ihre Häuser das Stadtbild. Die Villa Tugendhat ist das bekannteste dieser Gebäude: Von Ludwig Mies van der Rohe entworfen, gehört es heute als Einzeldenkmal zum Unesco-Weltkulturerbe. Auch die Villen der jüdischen Familien Arnold, Löw-Beer und Stiassni sind heute als Museen zugänglich.

Zum Festival reisen etliche jüdische Besucher und Besucherinnen aus dem Ausland an, zu gemeinsamen Gebeten, zum Austausch zwischen Gemeinden, Feiern zum Sabbat. Dazu gehören auch entferntere Verwandte der Familie Wittal. Eine zweite Säule des Festivals richtet sich an die breite Öffentlichkeit. Mehr als 10.000 Interessierte werden erwartet, erzählt Festival-Leiterin Eva Yildizova, die auch zur jüdischen Gemeinde in Brünn gehört: «Man kann sich beispielsweise mit koscherem Essen vertraut machen, mit der hebräischen Sprache und mit der jüdischen Geschichte in Brünn. Für Vorträge und Diskussionen kommen Fachleute aus jüdischen Museen, von Universitäten.»

Für die jüdische Gemeinde in Brünn fällt die noch junge Tradition des Stetl-Festivals in eine Umbruchzeit. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Gemeinde - gelegen auf halber Strecke zwischen Wien und Prag
- eine der bedeutsamsten in der mitteleuropäischen Region. Heute zählt sie rund 500 Mitglieder, vor allem liberale, aber auch orthodoxe Juden. Rabbi Stepan Maneshe Kliment, der selbst zur jüngeren Generation gehört, erklärt: «Die Identität der Gemeinde war stark geprägt von den Holocaust-Überlebenden. Diese Generation tritt jetzt ab, es kommen die nächsten Generationen. Die Gemeinde wird jünger, wir haben mehr Mitglieder als noch vor zehn Jahren. Wir sind eine Gemeinde, die ihre Wege sucht.» Bei dieser Suche hilft das Stetl-Festival.

Die Villa Wittal, die nach 1948 verstaatlicht worden war und bis heute der Stadt Brünn gehört, soll nach dem Festival aufwendig renoviert werden. Und danach wird hier das Herz des Festivals schlagen, die Zentrale soll in die Villa verlegt werden.

«Im Erdgeschoss, wo Johann und Friederike Wittal gelebt haben, möchten wir ein Museum einrichten», sagt Eva Yildizová. «Aber kein Museum, das man ehrfürchtig anschaut. Man soll Platz nehmen, einen Kaffee trinken können und sich hineinversetzen in das Leben hier im Haus.» In den oberen Stock soll die Bibliothek der jüdischen Gemeinde einziehen, geplant sind Workshops, Kochkurse zur koscheren Küche und alljährlich im August natürlich die Veranstaltungen des Stetl-Festivals. Damit die alte Villa mit jungem jüdischen Leben gefüllt wird.

epd

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