Was Protestanten hier lernen können
Aufbruch in Lateinamerika

- Charismatische Gottesdienste ziehen in Südamerika Millionen Gläubige an.
- Foto: epd-bild/Anja Kessler
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Die katholische Kirche in Lateinamerika hat nach einer Phase des Niedergangs in den vergangenen Jahrzehnten einen immensen Aufschwung erlebt. Vor allem eine Entwicklung ist dafür verantwortlich.
Von Alexander Garth
An der jüngeren Geschichte der katholischen Kirche in Lateinamerika kann man sehen, wie ein alter religiöser Monopolist nach einer Krise zu neuer Vitalität findet. Lateinamerika galt einst als die katholische Weltregion. Nach der staatlichen Anerkennung nichtkatholischer Religionen nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele protestantische Missionare vor allem aus Nordamerika und aus Europa (besonders Norwegen) und begannen, neue Gemeinden zu gründen.
Nach anfänglichen Startschwierigkeiten kam es in den 1960er-Jahren zu einem explosionsartigen Wachstum. Die neu entstanden protestantischen Kirchen, zumeist pfingstlich-evangelikaler Prägung, erreichten weite Teile der Bevölkerung. Millionen Katholiken schlossen sich den neu entstandenen Kirchen an, in Brasilien, Honduras, Guatemala, Panama und Costa Rica zum Beispiel über 40 Prozent der Einwohner.
Die Gründe für diesen Wechsel sind sehr unterschiedlich: Mission mit Elementen der Popularkultur, was besonders attraktiv für junge Leute war; Programme, die auf die realen Probleme der Menschen zugeschnitten waren wie beispielsweise Drogen, Alkohol, Gewalt, Krankheit, Armut; Überwindung der Opfermentalität unter den Unterprivilegierten durch Empowerment.
Vor allem offerierten die neuen Kirchen eine hochemotionale, begeisternde, intensive, erfahrungsreiche Spiritualität, die sehr gut zur lateinamerikanischen Mentalität passt. Die katholische Kirche war es auf Grund ihrer Jahrhunderte alten Monopolstellung nicht gewohnt, einladende missionarische Formate zu entwickeln.
Erst das Auftreten eines extrem erfolgreichen religiösen Konkurrenten bereitete den Boden für ein Umdenken. Anfangs starrte die katholische Kirche mit einer Mischung aus Bestürzung, Verwunderung und Resignation auf das atemberaubende Wachstum der protestantischen „Sekten“. Dann geschah das Wunder: Der ehemalige religiöse Monopolist entdeckte, dass Bekehrung und Erfüllung mit dem Heiligen Geist urkatholisch sind.
Es begann Ende der 1960er-Jahre mit zwei US-amerikanischen Jesuitenpriestern der Katholisch Charismatischen Erneuerung (Catholic Charismatic Renewal – CCR), einer weltweiten Erneuerungsbewegung, die besonders das Wirken des Heiligen Geistes betont und erlebt. Die katholisch-charismatische Erneuerung entfaltete eine unglaubliche Dynamik, die das Angesicht der Kirche veränderte: von hierarchisch zu partizipatorisch, von der Fokussierung auf Rituale hin zur aktiven Mitgestaltung durch Laien, von einer Betreuungskirche zu einer missionarischen Mitmachkirche.
Begabte Priester wie der Brasilianer Marcello Rossi verhalfen der CCR zu einem dramatischen Durchbruch. Er ist ein Star in Brasilien und füllt als Popmusiker ganze Stadien. Er veränderte die Kirchenmusik und schuf Lobpreislieder im Stile der Musik Brasiliens: Samba und Bossa Nova. Als seine Kirche in Sao Paolo zu klein wurde, baute er die größte Kirche Lateinamerikas, die Mae de Deus (Mutter Gottes) mit Platz für bis zu 100 000 Menschen, 25 000 in der Kirche und 75 000 auf dem Außengelände. Fünf Tage in der Woche feiert er dort Gottesdienste in voller Kirche.
Heute kann man beobachten, dass der charismatische Stil des Feierns und Betens viele Basisgemeinden durchdringt und besonders von jungen Leuten aufgenommen wird. Ein Viertel (nach vorsichtigen religionssoziologischen Schätzungen) der 600 Millionen Katholiken Lateinamerikas, also 150 Millionen, gehört heute zur Katholisch Charismatischen Erneuerung.
Diese geistliche Bewegung ist die wichtigste und größte der Weltkirche und genießt seit Papst Johannes Paul II. (1920–2005) die vielfältige Unterstützung des Vatikans. Die meisten Priesterberufungen Lateinamerikas sind eine Frucht dieser Bewegung.
Die Religionssoziologie benennt den Aufschwung gewählter oder individueller Religion als global wirkenden Megatrend des Christentums. Dem entspricht das Hauptanliegen der CCR: die persönliche Bekehrung und Erfüllung mit dem Heiligen Geist. Die Theologen der Bewegung sprechen daher von der 1. Bekehrung (im Sakrament der Taufe wird ein Mensch Gott geweiht) und von der 2. Bekehrung (das persönliche Hineintreten in die Berufung zur Christusnachfolge und zum Laienapostolat in der Kraft des Heiligen Geistes). Bekehrung wurde auf diese Weise verbunden mit der sakramentalen Theologie der Kirche.
Ihr Hauptunterscheidungsmerkmal zu den Pfingstkirchen und neopentekostalen Kirchen ist die Verehrung der Jungfrau Maria. Sie ist, so Johannes Paul II., „das Herz der Erneuerung“. Daneben fällt besonders eine Hochschätzung der katholischen Dogmen und der kirchlichen Morallehre auf sowie eine Intensivierung der katholischen Glaubenspraxis wie Beichte, Eucharistische Anbetung und das Rosenkranzgebet. Besonders der Besuch der Heiligen Messe hat signifikant zugenommen: in Brasilien beispielsweise besuchten früher nur 10 Prozent der Katholiken wöchentlich die Heilige Messe, heute sind es 47 Prozent.
Was können wir lernen von diesem Aufbruch? Sowohl die Katholische Kirche in Deutschland wie auch die evangelischen Landeskirchen sind ehemalige Religionsmonopolisten, die eine beunruhigende Krise durchschreiten. Zuerst soll kurz ein wichtiger Unterschied zu einer europäischen Religiosität genannt werden: Lateinamerika ist ein hochspiritueller und intensiv religiöser Kontinent. Atheismus ist ein absolutes Minderheitenphänomen. Obwohl auch in Europa die Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung zunimmt, sind die Menschen doch eher skeptisch gegenüber mystischer Religiosität. Sie haben irgendwie ein anderes Wirklichkeitsverständnis.
Vier Lernfelder ergeben sich aus dem, was wir von den Katholiken in der geistlichen Erneuerung Lateinamerikas lernen können: Erstens gehört das Thema Konversion (Bekehrung) in das Zentrum kirchlicher Arbeit. Die Religion der Zukunft ist auch bei uns gewählte Religion. Früher genügte es, irgendwie mit der Kirche zu glauben. Heute brauchen die Menschen persönliche Zugänge zum Glauben.
Zweitens herrscht in den Kirchen Europas ein bleiernes Defizit an Gotteserfahrung und Glaubensgewissheit. Wer ist der Heilige Geist, was wirkt er und wie können wir sein Wirken begehren? Das gehört in das Zentrum von Theologie und Praxis.
Drittens brauchen wir einen geistinspirierten Umgang mit der Heiligen Schrift als Gottes Wort. Viertens müssen wir kreativer werden, wie wir das Evangelium hinein kommunizieren in eine säkulare postchristliche Welt. Das bedeutet auch eine mutige Integration von Popularkultur in die kirchliche Praxis.
Der Autor ist Theologe und als Beauftragter für Theologie, Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Deutschen Evangelischen Allianz tätig. Er hat mehrere Sachbücher zu Glaubensthemen verfasst.


Autor:Online-Redaktion |
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