Personalnot und Papierkrieg
Jugendamt: Wenn Kinder durchs Raster fallen

Foto:  epd-bild/Thomas Lohnes

Acht von zehn Anrufen bleiben unbeantwortet, sagt Waltraud Schmelzer. Dabei wäre es jedes Mal dringend, wenn sie beim Jugendamt anruft. Jedes Mal geht es um das Wohl eines Kindes, das getrennt von seiner Familie im Haus Pius in Berlin-Zehlendorf ein Zuhause auf Zeit gefunden hat.

Von Magdalena Thiele (KNA)

Zwölf Kinder und Jugendliche zwischen 3 bis 17 Jahren werden in der Villa mit Garten im noblen Außenbezirk der Hauptstadt momentan von Schmelzers Team betreut, von Sozialarbeitern und Erziehern. Sie alle sind auf Veranlassung des Jugendamts hier. Und sind von dessen Entscheidungen abhängig - was aufgrund von Personalnot und Überlastung in den Ämtern nicht selten zum Problem wird.

Entscheidung nach mehreren Hilferufen

"Es gibt Kinder, die hier einfach nicht zurechtkommen", sagt die pädagogische Leiterin der Stiftung Haus Pius XII. "Ihnen wäre in einem anderen Setting, beispielsweise in einer Therapieeinrichtung, mehr geholfen. Das kann aber nur das zuständige Jugendamt veranlassen." Dessen Mitarbeiter seien jedoch "total überlastet".

In einem Fall hat es wiederholt sexuelle Übergriffe von zwei Geschwisterkindern auf ihre Mitbewohner sowie Gewalt gegenüber den Erziehern gegeben. "Wir haben der zuständigen Sozialarbeiterin mehrere Hilferufe zukommen lassen. Erst nach einigen äußerst schwierigen Monaten wurde schließlich entschieden, dass die Kinder aufgrund nicht verfügbarer Therapieplätze zurück zu den Eltern geschickt werden", schildert Schmelzer ihre jüngste Negativerfahrung. "Damit war den Kindern sicher nicht geholfen."

Betroffene müssen priorisiert werden

Dass dies kein Einzelfall ist, weiß auch Jugendamtsmitarbeiterin Valerie V., die anonym bleiben möchte. "Oft finden wir keine passgenauen Lösungen für die Kinder, weil wir einfach keine Zeit dafür haben, uns intensiv mit ihnen zu beschäftigen", sagt V., selbst Mutter eines kleinen Kindes. In einigen Fällen kenne sie die Kinder, die sie betreut, gar nicht persönlich; oft fänden Gespräche nur mit den Eltern oder anderen involvierten Personen statt, etwa Lehrern oder Sozialarbeitern.

65 Kinder betreut Valerie V. derzeit, sie arbeitet in Teilzeit. Empfohlen sind vom Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit höchstens 28 Fälle für Vollzeitkräfte. Bei 26 Arbeitsstunden kann sich V. rein rechnerisch jedem Fall nicht einmal eine halbe Stunde in der Woche widmen; pro Familie sind nicht selten mehrere Kinder betroffen. Fast täglich komme sie so in eine Art Triage-Situation und könne sich nur um echte Notfälle kümmern. Der Begriff Triage kommt aus dem medizinischen Bereich: Dabei geht es um die Frage, wer überlebenswichtige Geräte wie etwa ein Atemgerät oder ein Intensivbett erhält, wenn nicht genügend Ressourcen für alle Patienten vorhanden sind.

Über die Hälfte ist dauerhaft überlastet

Bei einer bundesweiten Umfrage des WDR, an der rund 300 Jugendämter teilgenommen haben, gaben kürzlich mehr als die Hälfte der Befragten an, dass die Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst dauerhaft überlastet seien. Als Hauptgrund für diesen Missstand wurde neben fehlenden Plätzen in Einrichtungen auch der immense Bürokratieaufwand genannt.

"Die Dokumentationspflichten, die wir erfüllen müssen, werden immer mehr", beklagt auch Valerie V. "Ich liebe meinen Beruf, aber die Bedingungen, unter denen meine Kollegen und ich arbeiten, sind unzumutbar. Uns ist bewusst, dass wir unserem gesetzlichen Auftrag so nicht zufriedenstellend nachkommen können, das ist extrem frustrierend." Entsprechend hoch sei die Fluktuation in den Jugendämtern.

Zeit für fundierten Austausch fehlt

Und darunter leiden letztendlich die Kinder. "Üblicherweise findet für jedes Kind halbjährlich eine Helferkonferenz statt, bei der sich Jugendamt, Eltern und Sozialarbeiter austauschen und beraten", erklärt Valerie V. "Kommt es zwischendurch zu einem Betreuerwechsel seitens des Jugendamtes, kann es aber durchaus sein, dass über ein Jahr keine solche Konferenz stattfindet."

Eine Erfahrung, die auch das Team im Haus Pius schon öfter gemacht hat. Und selbst wenn Helferkonferenzen regelmäßig stattfinden: "Oft haben die Vertreter des Jugendamtes unsere Berichte gar nicht gelesen und sind nicht über die aktuelle Entwicklung informiert", beklagt Waltraud Schmelzer. Für ein Gespräch mit den betroffenen Kindern fehle die Zeit - entschieden werde dann nach Aktenlage. Das fühle sich an wie Im-Stich-Gelassen-Werden.

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Online-Redaktion

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