Kriegsende 1945
Eine verlorene Kindheit im Wald

Ursula Dorn irrte nach dem Krieg als «Wolfskind» durch Litauen. | Foto: epd-bild/Hans Scherhaufer
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In ihrem Haus im Dörfchen Weißenborn bei Göttingen hat Ursula Dorn für den Besucher den Tisch gedeckt. Sie hat Kuchen besorgt und Kaffee gekocht. Schon beim Einschenken bricht es aus ihr heraus: «Ich war ein Wolfskind», sagt die 87-Jährige. «Ein Bettelmädchen. Und es ist ein Wunder, dass ich noch am Leben bin.»

Von Reimar Paul

Als «Wolfskinder» werden Kinder bezeichnet, die zumeist elternlos durch Wälder streifen, um zu überleben. Der Name nimmt Anlehnung an das sagenhafte Brüderpaar Romulus und Remus und meint in der jüngeren Geschichte Mädchen und Jungen, die nach der Weltkriegsschlacht um Königsberg wie hungrige Wölfe durch das Baltikum streunten.

Rund 5000 Kinder hätten nach der Eroberung Ostpreußens durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 ihre Eltern durch Erschießung oder Hungertod verloren und seien nach Litauen geflohen, weiß Jasna Causevic von der in Göttingen ansässigen Gesellschaft für bedrohte Völker. «Sie lebten in Wäldern, gingen bettelnd von Hof zu Hof, wurden als Arbeitskräfte ausgebeutet, geschlagen, vergewaltigt. Wer Glück hatte, bekam Arbeit bei kinderfreundlichen Bauern oder in einer Kolchose.»

Für die am 19. April 1935 als Ursula Buttgereit in Königsberg geborene Dorn begann das Grauen schon Monate vor dem Einmarsch der Roten Armee. «Es gab Tag und Nacht Beschuss. Wir lebten nur noch in Bunkern und Luftschutzkellern.» Wir – das sind außer Ursula Mutter Martha, die Geschwister Heinz, Fritz, Erika und Horst Günther, eine Tante und die Großmutter. Vater Fritz Buttgereit ist in sowjetischer Gefangenschaft. Er stirbt dort am 8. Mai 1946, Ursula wird das aber erst 50 Jahre später sicher erfahren.

Am 9. April 1945 nimmt die Rote Armee Königsberg ein. Ursula und ihre Angehörigen werden auf einen «Todesmarsch» getrieben: «Die ganze Stadt brannte" erinnert sie sich. "Rechts und links lagen Tote, aufgerissene Koffer.» Die Großmutter wird von Soldaten in einem Schrebergarten vergewaltigt, die Familie auseinandergerissen.

Panisch und ohne Orientierung steigt Ursula in einen Güterzug, der nach Kaunas in Litauen fährt. Eine Russin liest das verängstigte Mädchen auf und lässt es in einem Lager aus Stroh ausruhen. Als Ursula aufwacht, flüchtet sie. Nach mehrwöchiger Odyssee und heimwehkrank, fährt Ursula zurück nach Königsberg. Das Elternhaus liegt in Trümmern. Die Mutter haust in einer Baracke, auch die Geschwister leben noch, doch drei von ihnen werden in den nächsten Monaten verhungern. In größter Not machen sich Ursula und Mutter Martha erneut auf den Weg nach Litauen, um Nahrung zu erbetteln.

«Jeden Tag waren mehr Bettelkinder auf den Straßen, wir bekamen immer weniger», erinnert sich Ursula. «Jeden Tag waren wir woanders, meistens haben wir draußen geschlafen, der Wald war unser Schutz.» Das Mädchen findet schließlich – gegen Brot und Schlafstatt – Arbeit in einer Mühle.

Die Mutter zieht alleine weiter, erst Ende 1948 finden die beiden wieder zusammen. In Kaunas werden sie kommentarlos in einen verplombten Zug gesteckt und in die Sowjetische Besatzungszone abgeschoben, die spätere DDR. «Wir dachten zuerst, es geht nach Sibirien», sagt Ursula Dorn.

Sie kommt erst in ein Quarantänelager bei Eisenach, später in die Volksschule in Weißbach, südöstlich von Stadtroda. «Ich konnte mit 13 meinen eigenen Namen nicht schreiben.» Es folgen die Ausbildung zur Knopfmacherin, eine Stelle als Haushaltshilfe und dann als Näherin in der Nähe von Gera. Schließlich flieht sie 1953 mit ihrer Mutter in die Bundesrepublik.

Im Jahr 2000 organisiert der Verein «Brücke Göttingen-Kaliningrad» eine Reise ins frühere Königsberg. Nach langem Zögern entschließt sich Ursula Dorn zum Mitfahren. «Ich war danach ein halbes Jahr krank», sagt sie. «Überall in der Stadt hatte ich die Toten gesehen. Ich war da wieder das Bettelkind, das Wolfskind.»

(epd)

Autor:

Praktikant G + H

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