Glaubensserie (6): Das Vaterunser
Wie Vergebung gelingen kann

Wir beten in der Regel mit gefalteten Händen. Das hat den Ursprung im Treueeid beim Lehensystem des Mittelalters. Der Leibeigene legte zum Zeichen der Treue die gefalteten Hände in die Hände des Lehnsherren („er hat mich in der Hand“, „ich habe mich in seine Hände begeben“).  | Foto: epd-bild/Jens Schulze
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  • Wir beten in der Regel mit gefalteten Händen. Das hat den Ursprung im Treueeid beim Lehensystem des Mittelalters. Der Leibeigene legte zum Zeichen der Treue die gefalteten Hände in die Hände des Lehnsherren („er hat mich in der Hand“, „ich habe mich in seine Hände begeben“).
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Jeder zweite Deutsche kennt es auswendig. Das Gebet des Herrn begleitet uns von Kindesbeinen an bis zum Tod. Kirchenvater Tertullian (3. Jh.) hat es als Evangelium in Kurzform bezeichnet. Nach Luther besteht es aus „Anrede, sieben Bitten und dem Schluss“. Im folgenden Text geht es um die fünfte Bitte, die Vergebung.

Von Willi Wild

Was ist Vergebung? Es ist ungeheuer erleichternd, von einer schweren Last befreit zu werden. Eine klassische Möglichkeit dafür bietet die Beichte. Sie enthält das Schuldbekenntnis und den ausdrücklichen Zuspruch der Vergebung. Luther fand die Beichte nützlich. Die persönliche Beichte ist in der evangelischen Kirche allerdings weitgehend verloren gegangen.

Was meint nun diese Bitte im Vaterunser? Auffällig ist, dass die Bitte zweiteilig ist und an eine Vorbedingung gebunden: „wie auch wir vergeben“. – Im Urtext steht es sogar in der Vergangenheit: „wie auch wir vergeben haben“. Das ist so wichtig, dass das Thema nach dem Abschluss des Gebets nochmal aufgenommen wird (Mt 6,14+15). Entscheidend dabei ist: Angeredet sind wir hier immer als solche, denen Gott als Erster schon vergeben hat!

Sein Gebet - mein Gebet 

Das wohl bekannteste Gebet des Christentums ist das Vaterunser. Jesus hat seinen Jüngern die Worte gelehrt, wie sie beten sollen und es mit ihnen gemeinsam gesprochen. Doch was bedeuten diese Worte? Und wie ordnen wir sie in unser heutiges Leben ein? Was meinen wir damit, wenn wir diese Worte beten und welche Gedanken legen wir hinein? Die Poetry-Slammerin und Theologin Linn Manegold von der Uni Leipzig hat ihre Gedanken in die Verse dieses Gebets gelegt und regt zum Nachdenken und mitbeten an.

Wie eine Illustration dazu erscheint das „Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner“ (Mt 18): Ein Gauner bekommt vom König eine riesige Summe Schulden erlassen, weil er um Aufschub bittet. Anschließend aber weigert sich der Begnadigte, seinem Mitknecht, der ihn mit denselben Worten bittet, auch nur eine winzige Summe zu erlassen. Da nimmt der König seinen Schuldenerlass zurück.

Das Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ wird durch ein neues ersetzt: „Wie ich dir, so du anderen!“ Die Bedingung ist eindeutig und klar. Und sie macht zugleich erschreckend deutlich, wie schwer Vergeben sein kann! In der Theorie mag es uns klar sein, „Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“, und doch schaffen wir es oft nicht, dem Partner, Arbeitskollegen, Nachbarn oder Geschwistern zu vergeben.

Drei Beispiele zum Umgang mit der Vaterunser-Bitte: In einer Fernsehsendung war ein Lokführer zu Gast, der ein Haltesignal übersehen hatte. Bei dem Zusammenstoß starben elf Menschen, viele wurden schwer verletzt mit teils irreparablen gesundheitlichen Schäden. Dem Lokführer saß ein Mann gegenüber, der das Zugunglück überlebte, aber seitdem mit starken Schmerzen leben muss. Beide Christen, was die Sache nicht einfacher macht. Auf die Frage, ob er dem Lokführer vergeben kann, sagte der Mann im wahrsten Wortsinn „unter Schmerzen“: „Im Prinzip ja. Nur wenn die Schmerzen zu stark werden, gelingt es mir nicht.“ Der Lokführer war davon sichtlich berührt. Allerdings konnte er sich selbst nicht vergeben. Und das ist vielleicht die größere Herausforderung: eine Vergebung anzunehmen.


"Immer wieder bitte ich Gott, mir nicht abzuverlangen, dass ich dem Mörder verzeihe."

„Ja, ich vergebe“, dieser Satz kann mitunter nur mit göttlicher Hilfe geschehen. Corrie ten Boom machte diese Erfahrung, als sie ihrem Peiniger aus der KZ-Zeit gegenüberstand. Sie beschreibt die Szene folgendermaßen: „Kälte umklammerte mein Herz. Doch Vergebung ist kein Gefühl, sondern in erster Linie ein Akt des Willens. Ich betete, dass Gott mir das Gefühl der Vergebung schenken möge. Mit einer mechanischen Bewegung legte ich meine Hand in die Hand, die sich mir entgegenstreckte. Dann geschah etwas Unglaubliches!“ Sie fühlte einen heißen Strom durch Hände und Arme fließen und war von einer heilenden Wärme durchflutet. Mit Tränen in den Augen sagte sie: „Ich vergebe dir!“ – Wohl dem, der das sagen kann.

Für Beatrice von Weizsäcker ist die Vergebungsbitte die sonderbarste im Vaterunser. Die Juristin und Publizistin fragt in ihrem Buch „Vaterunser – Gebet meiner Sehnsucht“: Weiß Gott nicht, dass ich das kaum erfüllen kann? Sie schildert, wie sie den Prozess gegen den Mörder ihres Bruders Fritz erlebt hat. Wie es war, dem Täter im Gerichtssaal gegenüberzusitzen, ihm in die Augen zu schauen. „Immer wieder bitte ich Gott, mir nicht abzuverlangen, dass ich dem Mörder verzeihe. Denn das kann ich nicht. Und ich will es auch nicht. Es käme mir vor wie ein Verrat an meinem Bruder.“ Was die Sache für sie noch schwieriger gemacht hat, war die Tatsache, dass der Mörder seine Tat nicht bereute, sondern bis zum Schluss vor Gericht seine „Mission“ – wie er es nannte – verteidigt hat.

Das sind drei extreme Beispiele. Aber die Bitte im Vaterunser kennt eben keine Ausschlusskriterien. Und es gibt keine einfachen Antworten oder leichtfertig ausgesprochene Lösungen, wer wem wie vergeben sollte.

Beatrice von Weizsäcker hat mittlerweile ihren Frieden gefunden. Sie hat für sich erfahren, dass der barmherzige Gott die Vergangenheit abschließen und eine neue Perspektive schenken kann. Und sie hat diesen Teil des Vaterunsers für sich so formuliert: „Abba (aram. Vater), vergib mir meine Schuld, damit ich auch vergeben kann. Vergib mir, wenn ich nicht vergeben kann, weil der Schmerz in mir zu groß ist. Vergib mir, wenn ich nicht vergeben will, weil es ein Verrat wäre, am anderen. Vergib mir, wenn ich Frieden will um meinetwillen. Verleih mir deinen Frieden. Mein Gott, zu meinen Zeiten.“


Gesprächsimpulse

  • Welche Bedeutung hat das Gebet des Herrn in meinem Leben?
  • Welche Erfahrungen habe ich mit dem Vaterunser gemacht?
  • Welche Erwartungen verbinde ich mit dem Gebet, speziell dem Vaterunser?


Nächste Folge:
Himmelfahrt (Apostelgeschichte 1) 

Podcast zur Glaubensserie:
t1p.de/podcast-glauben

Wir beten in der Regel mit gefalteten Händen. Das hat den Ursprung im Treueeid beim Lehensystem des Mittelalters. Der Leibeigene legte zum Zeichen der Treue die gefalteten Hände in die Hände des Lehnsherren („er hat mich in der Hand“, „ich habe mich in seine Hände begeben“).  | Foto: epd-bild/Jens Schulze
Willi Wild ist Chefredakteur von "Glaube + Heimat"
und Lektor im Kirchenkreis Weimar.
 | Foto: Paul-Philipp Braun
Autor:

Willi Wild

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