Am Strand von Rimini
Trost in schweren Zeiten

- Die Müll- und Gefangenenorgel von Rimini
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Vor 80 Jahren bauten deutsche Kriegsgefangene in Rimini an der Adria aus Keksdosen, Lederhosen und Apfelsinenkisten eine Orgel. Ihr Klang hallt bis heute nach – und ein Organist möchte sie jetzt nachbauen.
Von Markus Harmann
Es waren die wohl ungewöhnlichsten Klänge, die jemals in einem Lager für Kriegsgefangene zu hören waren. September 1945, vier Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Am Strand von Rimini mischen sich plötzlich die schweren Akkorde einer Kirchenorgel mit dem Rauschen des Meeres. Tausende Männer bleiben andächtig stehen. Viele von ihnen haben Tränen in den Augen, als sie an der italienischen Adriaküste dem C-Dur-Präludium von Johann Sebastian Bach lauschen.
„Jahrzehnte später habe ich mit vielen dieser Männer gesprochen. Diesen Augenblick, als die Orgel spielte, haben sie nie vergessen, denn er machte ihnen Mut in schweren Zeiten“, sagt Michael Grüber. Der Organist aus Horb am Neckar hat nicht nur die Geschichte der Orgel von Rimini recherchiert. Er möchte das Instrument, das am 15. September 1945 erstmals erklang, auch rekonstruieren. Das Besondere: Es waren Gefangene, die diese Orgel vor 80 Jahren bauten.
Rimini, Sehnsuchtsort der Wirtschaftswunderkinder. In den 50er-Jahren entdeckten die Deutschen die Adria für sich. Das stimmt – und ist trotzdem nicht ganz korrekt. Denn wo bis heute Liegestühle und Sonnenschirme in Reih’ und Glied stehen, tummelten sich schon unmittelbar nach dem Krieg Tausende Deutsche. Als Kriegsgefangene hausten 150 000 ehemalige Wehrmachtssoldaten und Angehörige der SS hinter Stacheldraht in Zelten unmittelbar am Strand. Die „Enklave Rimini“ erstreckte sich über mehr als 20 Kilometer Küste.
Die Gegend um Rimini habe sich für ein solches Massenlager offenbar angeboten, mutmaßt Carlo Gentile, Historiker an der Uni Köln und spezialisiert auf die deutsch-italienische Weltkriegsgeschichte. „Im Norden bildete die Po-Ebene eine natürliche Barriere. Um fliehen zu können, hätten die Gefangenen den Fluss überqueren müssen, und die Brücken waren leicht zu kontrollieren.“
Unter den Lagerinsassen war auch ein gewisser Eusebius Schäbung. Über einen Aushang suchte er im Juni 1945 „Orgelmacherkollegen zum geistigen Austausch“. Wenig später trat auf den Plan: Werner Renkewitz, Orgelbaumeister aus Ostpreußen – manche Experten vermuten inzwischen, Schäbung und Renkewitz seien ein und dieselbe Person gewesen. Der ehemalige Wehrmachtssoldat galt als etwas verschroben, aber genial. Er hatte weder Unterlagen noch Werkzeug, doch er erinnerte sich an das Maß einer Pfeife – der C-Pfeife. Von ihr leitete er alle weiteren Maße ab.
Zwölf Männer schlossen sich ihm an, unter ihnen Schreiner, Schmiede und ein Kunstmaler. In nur drei Monaten bauten sie eine Kirchenorgel, die „Königin der Instrumente“. Als Baumaterial stand ihnen ausschließlich Lagerschrott zur Verfügung: Keksdosen, Benzinkanister oder Apfelsinenkisten. Selbst alte Lederhosen kamen zum Einsatz, um Ventile abzudichten. Den Leim spendeten britische Lageraufseher.
Am Tag ihrer Einweihung, an der auch der Bischof von Rimini, Luigi Santa, teilnahm, hatte die Orgel 261 Pfeifen, sechs Register und verzierte Seitentüren zum Ausklappen. Die Bedingungen für den Bau einer Orgel seien in diesem Lager besser gewesen als anderswo, sagt Historiker Gentile. „Das lag vor allem daran, dass die Sonne häufiger schien.“ Außerdem hätten die Gefangenen viele Freiheiten gehabt.
Der heute 101-jährige Christian Schaber aus Loßburg im Schwarzwald erinnert sich an zwei Konzerte, an denen er teilnahm. Wobei den damals 21-Jährigen die Mechanik der Orgel mehr interessierte als die Musik. „Nach einem Konzert hat ein Mann uns die Orgel erklärt“, sagt Schaber. Was er damals nicht wusste: Es war Orgelbauer Werner Renkewitz. Dieser spielte die Orgel bis 1947, dann wurde das Lager aufgelöst. Weil Renkewitz befürchtete, die britische Armee könnte das Instrument mitnehmen, baute er es ab und übergab es mithilfe des Bischofs von Rimini der Kirche Sant’Agostino. Dort tat sie einige Jahre Dienst, wurde jedoch bei einem Brand in den 60er-Jahren fast vollständig zerstört. Renkewitz zog nach Nehren bei Tübingen, wo er bis zu seinem Tod 1978 zurückgezogen im Dachboden einer Schreinerei lebte und weiter Orgeln baute.
Einige Pfeifen der Rimini-Orgel liegen bis heute in einem Nebenraum von Sant’Agostino. Musiker Michael Grüber entdeckte sie vor einigen Jahren. Wenn es nach ihm geht, werden sie in einem Neubau wieder erklingen. Doch noch sucht er Sponsoren für seine „Friedensorgel“, wie er sagt: „Am liebsten möchte ich mit ihr durch Europa ziehen und sie an vielen Orten zum Klingen bringen.“
(kna)
Autor:Online-Redaktion |
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