auf den 18. September ...
Eleonores Lied

- Eleonore Fürstin zu Stolberg-Wernigerode (* 20. Februar 1835 in Gedern; † 18. September 1903 in Ilsenburg)
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Eleonores Lied …
Wenn man will, lässt sich die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als Epoche der Selbstüberschätzung lesen: Dampfmaschinen, Telegrafen, Eisenbahnen, Nationalstaaten – alles war möglich, nur Gott schien überflüssig geworden zu sein. Das war die Zeit, in der die Philosophen vom „Tod Gottes“ fabulierten und die Fabrikschlote als eiserne neue Prediger in den Himmel ragten. Inmitten dieser zivilisatorischen Selbstfeier erhebt Eleonore Fürstin Reuß zu Köstritz, geborene Stolberg-Wernigerode, eine Stimme, die man kaum hören will: „Ich bin durch die Welt gegangen … und die Welt ist schön und groß. Doch ziehet mein Verlangen mich weit von der Erde los.“ Am 18. September vor 122 Jahren schloss sich der Lebenskreis dieser Frau. Wir erinnern an sie und ihr Lied.
Als Gedicht ist es kein sentimentales Kammerlied geblieben, sondern hat als Verweigerungsgeste einer Wissenden den Weg in die Gesangbücher gefunden. Die Welt, die sich selbst in Nationalfarben, Aktienkursen und Fortschrittsparolen feiert, wird in den schlichten Worten der vier Strophen gleichsam entmachtet. Karl Gustav Arnold Kuhlo hat eine zu Herzen gehende Melodien dafür zu finden gewusst und das Lied ist in unzähligen Frauenhilfsstunden unzählige Male rauf und runter gesungen worden. Dann wurde es für zu „erwecklich” gehalten - und aus den Gesangbüchern wieder entfernt. Ja - es ist nicht immer das Schlechteste, was drauf gehen muss, wenn Leute zu Entscheidungsträgern werden und sich für das Geistliche seiner angeblichen Infantilität wegen schämen zu müssen glauben.
Die Fürstin Eleonore nun beobachtet in ihrem Lied die Welt. Ähnlich wie eine Ethnologin „ihre” Eingeborenen beobachtet: „Sie suchen spät und früh, sie schaffen, sie kommen und gehen, und ihr Leben ist Arbeit und Müh.“ Es ist, als würde eine Fürstin den ganzen Betrieb der Moderne mit einem Achselzucken quittieren: Ihr sucht, ihr rackert, ihr verzehrt euch – und bleibt leer.
Die Zeitdiagnose stammt also nicht aus den Hinterhöfen der Arbeiterquartiere, nicht aus der Feder eines Marx-Schülers, sondern aus der Feder einer Frau des Adels, die das Treiben aus Distanz und Nähe zugleich sehen konnte. Und sie zieht daraus eine Pointe, die für das ausgehende 19. Jahrhundert ein Affront war: „Es ist eine Ruh vorhanden.“ Keine politische Revolution, kein wissenschaftlicher Durchbruch, kein neuer Kaiser – sondern eine biblische Ruhe, unzeitgemäß, fast skandalös in einem Zeitalter, das sich permanent selbst beschleunigte. In einer Welt, die sich in Produktions- und Expansionskreisläufen selbst hypnotisierte, schrieb eine Fürstin ein kleines Exerzitium des Ausstiegs. Sie verweigerte sich der Immanenzfalle, indem sie den Blick hob – nicht auf die Sterne der Astronomie, sondern auf die Ruhe des einfältigen Glaubens. Und indem sie das tat, war sie zugleich politischer, als sie es vielleicht selber wusste: Auf jeden Fall unterliefen ihre Worte den offiziellen Lärm des Jahrhunderts.
Heute also, 122 Jahre nach ihrem Tod, liest sich das Lied wie ein trotziges Flüstern gegen die Dauerbeschallung des bedingungslosen Fortschritts. Die Fürstin sagt: Die Welt ist groß, aber nicht groß genug, um die Sehnsucht zu stillen. Die Arbeit ist viel, aber nicht mächtig genug, um den Sinn zu ersetzen. Die Liebe, die Ehre, das Glück – sie bleiben unbefriedigt. Und was bleibt, ist die Ruhe, die kein Jahrhundertlärm übertönt. Das 19. Jahrhundert wollte ein Jahrhundert der Lösungen sein. Eleonore schrieb ein Lied, das wie eine Antwort klingt: "Die Lösung liegt nicht in euren Lösungen."
Ich bin durch die Welt gegangen
1) Ich bin durch die Welt gegangen,
und die Welt ist schön und groß,
und doch ziehet mein Verlangen
mich weit von der Erde los.
2) Ich habe die Menschen gesehen,
und sie suchen spät und früh,
sie schaffen, sie kommen und gehen,
und ihr Leben ist Arbeit und Müh.
3) Sie suchen, was sie nicht finden,
in Liebe und Ehre und Glück,
und sie kommen belastet mit Sünden
und unbefriedigt zurück.
4) Es ist eine Ruh vorhanden
für das arme müde Herz;
sagt es laut in allen Landen:
Hier ist gestillet der Schmerz.
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Eleonore Fürstin zu Stolberg-Wernigerode (* 20. Februar 1835 in Gedern; † 18. September 1903 in Ilsenburg) war durch Heirat Prinzessin Reuß zu Köstritz und eine deutsche Liederdichterin.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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