Dido und Aeneas
REMEMBER ME

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Dido, Aeneas und das Lied der sterbenden Königin
Es gibt Mythen, die zu schaffen machen wie ein schlecht verheilter Bruch am Hüftknochen der gesamten Menschheit. Auch Dido, die Königin von Karthago, und Aeneas, der pflichtgefangene spätere Gründerheld Roms, gehören zu den ewigen Schmerz-Gespenstern des Menschengeschlechts. Zwei Leben, die sich begegnen, nicht um einander zu retten, sondern um einander als notwendige Opfer im Weltlauf dem Alleinsein zu überlassen. Man könnte sagen: Das Universum schreibt seine wichtigsten Kapitel mit einem Schwert - dem Messer der Trennung.
Dido liebt, und sie liebt in einer Intensität, die nicht nur menschlich, sondern kosmisch wirkt. Ihr Herz ist nicht ein Organ, sondern ein Flammenaltar. Aeneas dagegen trägt bereits die Mission im Gepäck, die ihn bindet wie eine eiserne Handschelle: Rom muss entstehen, und Karthago darf nicht zu seinem Heimathafen werden. Liebe wird so zur Episode, Pflicht zur Ewigkeit. Es ist eine metaphysische Kollision: die unendliche Forderung der Götter gegen die endliche Sehnsucht einer Frau.
Henry Purcell hat dieser tödlichen Arithmetik eine musikalische Stimme verliehen, die unter die Haut fährt. When I am laid in earth, remember me … — es ist die Arie einer Königin, die nicht mehr um Rettung bittet, sondern um Gedächtnis. Kein Widerstand mehr gegen das Schicksal, nur noch die Bitte, im Versinken nicht gänzlich ausgelöscht zu werden. Der Ton ist Träne, die sich verflüssigt in Musik, und wer zuhört, erkennt: Es sind nicht nur Didos Worte, es ist die ganze Menschheit, die da singt, im Wissen um ihr Ende.
Die Tragödie ist der Urschrei des Menschentiers, das sich seiner eigenen Verlassenheit bewusst wird. In Didos Sterbelied ist diese Erkenntnis verdichtet wie in einer philosophischen Sprengladung: Kein Liebhaber hält stand, keine Macht bleibt, kein Mythos schützt vor der Nacktheit der Endlichkeit. Alles Glück steht unter dem Vorbehalt des „Nun nicht mehr“.
Und doch — hier tritt die göttliche Ironie in das Geschehen ein, Ironie nicht als Witz, sondern als tiefer Ernst. Denn in Didos Bitte, erinnert zu werden, offenbart sich ein unausrottbares Wissen: Erinnerung ist mehr als Gedächtnis. Sie ist ein unsichtbares Band zwischen den Toten und den Lebenden. Wer erinnert, gibt ein Stück Gegenwart zurück an die, die im Schattenreich verschwinden. In diesem unvergleichlichen „Remember me“ liegt eine Verzweiflung, aber auch eine Vorahnung: Vielleicht gibt es ein Ohr, das uns über alle Zeiten hinweg hört.
Das Christentum hat dieses Ohr identifiziert und es beim Namen genannt: Gott, der die Toten nicht in Vergessenheit fallen lässt. Die Auferstehungshoffnung – nicht als Trostpflaster, sondern als unverschämtes Rettungsseil – wirft sich über das Abgrundgelände, das zwischen Dido und uns allen klafft. Der Gekreuzigte, der am dritten Tag aufersteht, ist die radikale Widerrede gegen den Chor der Totenklagen. Er antwortet auf Didos Bitte mit einem paradoxen Versprechen: „Ich erinnere dich nicht nur – ich rufe dich zurück ins Leben.“ Was wären wir ohne dieses Narrativ?
So bleibt Didos Lied ein Tränenstrom, der uns ertränken könnte. Aber am Rand dieser Flut glänzt das Kreuz wie eine schmale Brücke aus unzerstörbarem Holz. Ohne diese schwankende Brücke wäre alles Leben nur Elegie, ein ästhetischer Totentanz. Mit ihr aber wird die Geschichte von Dido und Aeneas zur Parabel über unsere eigene Rettung: Dass am Ende nicht die Pflicht siegt, nicht der Mythos, nicht die Trennung – sondern das Leben selbst, das stärker ist als der Tod.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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