Vor 30 Jahren: Das Massaker von Srebrenica
Gedenken an Europas Wunde

- Eine Gedenktafel im Srbrenica Memorial Center zeigt die endlose Reihe von Namen der Opfer. Das Massaker vom Juli 1995 gilt als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
- Foto: epd-bild/Judith Kubitscheck
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Es war das größte Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit 1945. Der Massenmord von Srebrenica an mehr als 8000 bosnischen Muslimen belastet bis heute die politische Kultur auf dem Balkan. Doch das Gedenken lebt.
Von Christoph Schmidt
Der Eroberer gibt sich väterlich an diesem heißen Julitag 1995, im vierten Jahr des Bosnienkriegs: „Habt keine Angst, niemand wird euch etwas antun“, beschwichtigt der bosnisch-serbische General Ratko Mladić vor einer großen Menge muslimischer Bosniaken, Frauen, Männer und Kinder. Ihre Gesichter spiegeln Angst, Hoffnung, Ungewissheit. Busse seien unterwegs, um die Menschen aus der Gegend von Srebrenica auf bosnisches Gebiet zu bringen, verspricht Mladić vor laufender Kamera.
In Wahrheit gibt er beim Einmarsch in Srebrenica vor seinen Soldaten eine andere Parole aus, wie ein zweites Filmdokument beweist. Der tief in der Geschichte wurzelnde Hass des orthodoxen Serben auf bosnische Muslime entlädt sich in einem Satz: „Die Zeit ist gekommen, an den Türken dieser Region Rache zu nehmen.“ Nach der türkischen Balkan-Eroberung im 15. Jahrhundert hatten die Bosniaken allmählich die Religion der neuen Herren angenommen.
Beide Auftritte Mladićs laufen in Endlosschleife auf einem Videomonitor in der Galerija 11/07/95 in Sarajevo. Sie ist Museum und Gedenkstätte zugleich für das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Unter den Augen niederländischer UNO-Soldaten zogen Mladićs Truppen am 11. Juli 1995 bei Srebrenica Tausende, hauptsächlich Männer, aus dem Flüchtlingsstrom heraus. Sie trieben sie zusammen und erschossen sie in den nächsten Tagen systematisch an vielen Orten rund um die kleine Stadt in Ostbosnien. Anschließend verscharrten sie die Ermordeten. Die Zahl der bestätigten Todesopfer liegt heute bei 8372. Viele wurden noch immer nicht gefunden.
Das Video auf dem Großbildschirm in der Galerija 11/07/95 zeigt harte Szenen von Massenerschießungen. Als die Körper der Männer nach vorne fallen, stöhnt eine Zuschauerin auf und wendet sich ab. Doch die Ausstellung im Zentrum von Sarajevo konfrontiert den Besucher auch mit stummen Bildern: 640 Porträtfotos von Ermordeten etwa, darunter auch Frauen und Minderjährige.
„Der einzige Grund für ihre Tötung war, dass sie den falschen Namen, die falsche Ethnie und Religion hatten“, sagt Tarik Samarah, Gründer und Leiter der Galerija. „Von etlichen Opfern blieben wegen der Kriegswirren nicht mal mehr Fotos übrig.“ Dafür dokumentieren an den Wänden großformatige Aufnahmen das Grauen: ein verwester Schädel im Schlamm, Menschen mit Schaufeln, die ihre Angehörigen ausgraben.
Ein gespenstisches Bild zeigt eine erschossene Frau neben ihrer Einkaufstüte, während ein Auto im Hintergrund achtlos vorbeifährt. Entstanden ist es während der fast vierjährigen Belagerung Sarajevos durch die bosnisch-serbische Armee, deren Scharfschützen und Artillerie Jagd auf die Bevölkerung machten und 11 000 Menschen töteten. Das Foto erinnert daran, dass der Massenmord von Srebrenica zwar die schlimmste, aber bei weitem nicht einzige Gräueltat dieses Krieges war. „Erinnerung darf kein passiver Akt sein“, fordert Galerija-Gründer Samarah. „Sie funktioniert nur als aktives Bemühen um die Menschenwürde und dafür, dass so etwas nicht wieder passiert.“
Mit 100 000 Toten war der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 der blutigste unter den jugoslawischen Zerfallskriegen. Während das Teilgebiet der Republika Srpska unter Radovan Karadžić den Anschluss an das serbische Mutterland anstrebte, wollten die Bosniaken ihren eigenen Staat. Beide Volksgruppen bildeten jeweils mehr als 30 Prozent der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas. In Titos Jugoslawien hatte man oft Haus an Haus zusammengelebt, nun wütete der ethnokulturelle Nationalismus. Dabei begingen auch Bosniaken Kriegsverbrechen an bosnischen Serben.
1993 erklärt der UN-Sicherheitsrat das Gebiet um Srebrenica dann zur Schutzzone für rund 40 000 bosniakische Flüchtlinge, was die Eroberung durch Mladićs Truppen zwei Jahre später nicht verhindert. Dass die nur etwa 400 niederländischen Blauhelme sie angesichts der Übermacht ohne Gegenwehr gewähren ließen, sorgte nach dem endlich erzwungenen Frieden von Dayton Ende 1995 für jahrelange Debatten – und die Rolle der UNO bis heute für Verbitterung in der bosnischen Gesellschaft. Im Verkaufsbereich der Galerija 11/07/95 zeugen schwarze T-Shirts davon, Aufschrift: „UN – United Nothing“.
Zumindest bezeichnete der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Geschehen von Srebrenica 2007 als Völkermord. Die Haupttäter Mladić und Karadžić erhielten vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal lebenslange Haftstrafen, etliche weitere wurden von verschiedenen Gerichten verurteilt. Auch in Serbien, das jedoch den Vorwurf des Genozids nicht anerkennt.
Das gilt erst recht für den heutigen Präsidenten der Republika Srpska, die seit dem fragilen Abkommen von Dayton eine der beiden Entitäten Bosnien-Herzegowinas ist. Der Nationalist Milorad Dodik spricht von einem „Lügen-Mythos“ und droht derzeit wieder mit der Abspaltung aus dem Staatsverband. „Wir leben immer noch in der letzten Phase eines Völkermords: seiner Leugnung“, sagt Samarah.
So bleibt Srebrenica auch nach 30 Jahren eine Wunde in Europa. Besonders für die Angehörigen der rund 800 Opfer, nach denen immer noch gesucht wird. Tausende andere fanden inzwischen ein würdiges Grab auf der Gedenkstätte Potočari – jenem Ort nahe Srebrenica, wo Mladić dem Menschen einst den sicheren Abzug versprach.
(kna)
Autor:Online-Redaktion |
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