Wanfrieder Abkommen 1945
Eine Grenzkorrektur veränderte ihr Leben

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Am 17. September 1945 einigten sich Amerikaner und Sowjets auf einen Gebietstausch an der hessisch-thüringischen Grenze. Sieben Dörfer wechselten die Besatzungsmacht - mit spürbaren Folgen für die Bevölkerung.
Von Helga Kristina Kothe
Asbach, ein kleines Dorf im thüringischen Eichsfeld, gehörte einst zu Hessen - bis es am 17. September 1945 durch das sogenannte Wanfrieder Abkommen der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde. Für die damals vierjährige Ursel Lange bedeutete die Grenzkorrektur, in der DDR statt in der Bundesrepublik aufzuwachsen.
Das Abkommen regelte einen Gebietstausch zwischen der US-amerikanischen und der sowjetischen Besatzungsmacht. Laut einem Bericht der damaligen Bundesregierung aus dem Jahr 2013 über die Aufarbeitung der SED-Diktatur war es „der einzige Gebietstausch, der nach dem Krieg zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone vorgenommen wurde“.
Hintergrund
1945 tauschten die US-amerikanischen und sowjetischen Besatzungsmächte an der hessisch-thüringischen Grenze Gebiete, um eine Bahnlinie unter US-amerikanische Kontrolle zu bringen. Die Strecke wurde später als "Whisky-Wodka-Linie" bekannt.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs vereinbarten amerikanische und sowjetische Besatzungsmacht mit dem sogenannten Wanfrieder Abkommen einen Gebietstausch an der hessisch-thüringischen Grenze. Die am 17. September 1945 unterschriebene Vereinbarung hatte den Wechsel von sieben Dörfern zwischen den Besatzungszonen zur Folge. Dabei fielen die hessischen Dörfer Asbach, Sickenberg, Vatterode, Weidenbach und Hennigerode an die sowjetische Zone, während die US-Amerikaner die Eichsfelder Dörfer Neuseesen und Werleshausen erhielten.Ziel war es, die Bahnlinie Bebra-Göttingen vollständig unter Kontrolle der US-Armee zu bringen. „Der Vertrag löste ein praktisches Versorgungsproblem der US-Armee, deren Nachschublinie von Bremerhaven nach Hessen, Bayern und Württemberg führte“, erklärt Christian Stöber, Historiker und Leiter des Grenzmuseums Schifflersgrund im thüringischen Asbach-Sickenberg. Die Strecke durchquerte auf vier Kilometern sowjetisches Gebiet und war mehrfach blockiert worden.
Ein anschauliches Zeugnis der Verhandlungen ist im Grenzmuseum ausgestellt, eine schwarze Olympia-Plana-Reiseschreibmaschine mit kyrillischer Tastatur. Darauf wurde die russische Fassung des Vertrags geschrieben. Die Maschine gehörte dem US-Militärkommandanten Michael Burda, der maßgeblich an den Gesprächen beteiligt war.
Überregional wurde die Bahnstrecke später als „Whisky-Wodka-Linie“ bekannt. Für die Herkunft des Begriffs gibt es mehrere Erklärungsansätze: den angeblichen Austausch landestypischer Spirituosen nach den Vertragsverhandlungen, den gemeinsamen Genuss zum Abschluss der Gespräche oder auch eine Wortschöpfung des Volksmunds aufgrund des Streckenverlaufs entlang der Grenze zwischen den Besatzungszonen. Möglich ist laut Stöber auch, „dass die eingängige Metapher schlichtweg auf einen findigen Journalisten zurückgeht“.
Ein in Wanfried verbreiteter Mythos besagt, die Stadt habe ursprünglich ebenfalls zur sowjetischen Besatzungszone gehören sollen, sowjetische Soldaten hätten bereits das Rathaus besetzt - gestoppt nur durch US-Verhandlungsführer Burda. „Er gilt heute als Retter von Wanfried“, betont Stöber: „Die Stadt benannte 2006 einen Platz nach ihm.“ Laut Stöber zeigen die Quellen jedoch ein anderes Bild. Die Präsenz sowjetischer Soldaten sei auf Treffen mit den US-Militärs zurückzuführen, die zunächst in Wanfried und später auf Gut Kalkhof stattfanden: „Den überlieferten US-Akten zufolge verliefen die Verhandlungen reibungslos und zügig.“
Fünf hessische Dörfer - Asbach, Sickenberg, Vatterode, Weidenbach und Hennigerode - gingen demnach an die Sowjets. Im Gegenzug erhielten die Amerikaner die Eichsfelder Orte Neuseesen und Werleshausen, um die strategisch wichtige Bahnstrecke Bebra-Göttingen vollständig kontrollieren zu können. Diese verlief zuvor auf wenigen Kilometern durch sowjetisch besetztes Gebiet, was wiederholt zu Blockaden geführt hatte.
Die heute 84-jährige Ursel Lange erinnert sich an die Tage der Ungewissheit vor der Unterzeichnung auf Gut Kalkhof bei Wanfried: „Wir wussten nicht, wo wir hingehören, mal fuhren US-Soldaten durchs Dorf, mal russische.“ Rückblickend nennt sie den Tag der Übergabe einen verhängnisvollen Einschnitt: „Die Bewohner Asbachs mussten ohnmächtig zusehen, wie die Amerikaner abzogen und die Russen einmarschierten. Die Gemeinden fristeten in den folgenden Jahrzehnten ein abgeschiedenes Dasein.“

- Ursel Lange
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Die Bundesstiftung Aufarbeitung nennt in einer Dokumentation über die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze die Folgen des Gebietstausches für die unter sowjetischen Einfluss geratenen Menschen ein „düsteres Kapitel DDR-Geschichte“. Sie hätten in allen Lebensbereichen „ein komplettes Überwachungssystem“ erdulden müssen.
Die politischen Veränderungen prägten Langes Kindheit und ihr weiteres Leben. Anfangs, so schildert sie es, veränderte sich im Alltag der Menschen wenig. Felder auf westdeutschem Gebiet konnten weiterhin bewirtschaftet werden, auch Besuche des benachbarten Bad Sooden-Allendorf im Westen waren möglich, um Lebensmittel zu tauschen. „Meistens wurden die Kinder geschickt, da sie weniger kontrolliert wurden“, erzählt sie.
Doch die Situation verschärfte sich nach und nach. „Es war ein schleichender Prozess“, erinnert sich Ursel Lange. Zunächst wurden Schlagbäume aufgestellt, später folgten immer umfassendere Grenzsicherungsanlagen. 1952 wurde die Grenze zum Westen vollständig abgeriegelt. Entlang der innerdeutschen Grenze entstand ein fünf Kilometer breites Sperrgebiet. Die Sperranlagen verliefen direkt hinter dem elterlichen Grundstück, vom Garten aus konnte Lange sie sehen.
1952 erlebte sie auch, wie ihre Großmutter, ihre Tante und mehrere Nachbarn zwangsumgesiedelt wurden - ebenso wie tausende andere, die als „politisch unzuverlässig“ galten. Viele ihrer Mitschüler waren bereits in die Bundesrepublik geflohen, ebenso Verwandte. „Mit 13 Kindern bin ich eingeschult worden, am Ende waren wir nur noch zu dritt“, erinnert sie sich.
„Es kann doch so nicht bleiben“, habe man damals gedacht, sagt Ursel Lange. Doch mit den Jahren schwand die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung. Rückblickend sagt sie: „Ich war zufrieden. Aber wäre es anders gekommen, hätte ich auch andere Chancen im Leben gehabt.“ Trotz der politischen Begrenzungen gestaltete sie ihr Leben aktiv. Sie arbeitete in der Gemeindeverwaltung ihres Heimatorts. Nach der Wiedervereinigung übernahm Lange Verantwortung und wurde 2006 zur Bürgermeisterin von Asbach-Sickenberg gewählt - ein Amt, das sie bis 2013 ausübte.
(epd)


Autor:Online-Redaktion |
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