Glückwunsch
Once upon a time
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Vor langer Zeit, als das Wünschen noch half, die Tiere sprechen konnten und der Herrgott selbst auf Erden ging, erzählte man sich von einem stillen Tal, das zwischen zwei fernen grünen Hügelketten gelegen und einen der sieben Mittelpunkte der Welt ausgemacht haben soll. Dort trug sich die wunderbare und traurige Geschichte des Knaben Perdix zu, der – kaum dass er die ersten Worte richtig formen konnte – damit begann, die Gegenstände seiner Umgebung zu zerlegen, neu zusammenzufügen, sie in einer Selbstverständlichkeit zu verwandeln, als wäre seine Hand der des Schöpfers ebenbürtig. Ein technisch begabtes Kind, sagte man, doch das traf nicht ganz den Kern. Denn neben dem Knaben Perdix stand – unsichtbar für alle anderen – seine liebe Gefährtin - die Phantasie. Ein Mädchen mit lichtem Blick, das nie älter wurde und dessen Schritt man nicht hörte, dessen Atem aber zu spüren war.
Das Rad, die Pfeile, die Säge, ja sogar die Schraubzwinge – all diese wunderbaren Geräte seien, so hieß es, nicht eigentlich von Perdix erfunden worden, sondern entsprangen dem Spiel zwischen ihm und der Phantasie. Er setzte an, sie hauchte, und plötzlich war das, was vor einer Stunde noch unvorstellbar gewesen war, ein Gebrauchsgegenstand. Die Erwachsenen schüttelten den Kopf, sagten „Talent“, „Begabung“, „ein Wunderkind“, aber das Kind Perdix wusste, dass alles eigentlich nur von dem Mädchen gehaucht war, das aus einer anderen Ordnung herüber gestiegen gekommen ist.
Doch dann nahte jener Tag, über den die Alten nur flüsternd sprachen. Und ihre Stimmen senkten sich, wenn sie das erwähnten: Niemand weiß, wie es geschah. Vielleicht hatte die Phantasie ein fernes Echo vernommen, den Ruf aus jenseitigen Bezirken der Sterne, dort, wo jene Dinge verhalten atmen, welche selber niemals zu Dingen werden dürfen. Vielleicht hatte Perdix die Phantasie gekränkt. Niemand weiß es. Wie dem auch sei: Eines Morgens wachte der Knabe auf, und die Luft war leer. Das Mädchen war fort.
Er suchte sie in den Werkstätten, den Gruben, den kleinen Schluchten, wo sie früher gemeinsam Material für neue Einfälle gesammelt hatten – vergeblich. Seine Hände waren zwar noch immer geschickt, aber sie gehorchten nur ihm selbst; sie taten, was man ihnen befahl, aber sie wussten nicht mehr, wozu. Die Welt war plötzlich ein Raum ohne Widerhall geworden.
Und doch, so erzählt man, kam aus dieser Leere noch ein neues Werk hervor. Es schien - verglichen mit der früheren Genialität - zwar recht unscheinbar zu sein, wie ein einziges Wort, das irgendwer an den Rand einer Buchseite kritzelt. Die Menschen übersahen es fast. Aber Perdix, der inzwischen zum Greis geworden war, hatte es mit der ganzen Gewissenhaftigkeit eines Hungernden aufgeschrieben. Und so entstand das, was wir heute Religion nennen. Sie bestand nur aus einem einzigen Gedanken: „Dass der Mensch etwas sucht, das er verloren hat – und dass er nicht einmal weiß, ob es das, was er sucht, überhaupt gibt.”
Und doch muss es das geben. Oder sollte es das geben! So glaubte der alte Perdix mit der Kraft ehemaliger Phantasie. So spürte er das in seiner Kehle - wie einen erstickten Schrei. Er hatte alle seine Erfindungen - und auch diesen letzten Entwurf - in einer Höhle verwahrt, tief hinten, hinter einem Vorhang aus den Flechten der Zeit. Dort lagen die Blätter: sorgfältig beschriftet, die Linien klar wie die eines Kopisten, der zugleich Baumeister ist. Perdix wusste, dass er ohne das Mädchen Phantasie nie wieder zum alten Frohsinn des schaffenden Erfindens würde gelangen können. Also ließ er seine Aufzeichnungen in der Höhle und kehrte ihr den Rücken, als hätte er nicht mehr das Recht, das Innere des ehemaligen Heiligtums zu betreten.
Äonen später brachen Menschen – tausendmal weniger begabt als der Knabe, aber eifriger, unruhiger – in die Höhle des Perdix ein. Da fanden sie die Blätter hinter den Schleiern der Zeit, staunten über die Schönheit der Schrift, verstanden aber kein Wort - und verstanden doch alles. Sie nahmen die Fragmente, ordneten sie nach ihrem eigenen Sinn, verwandelten die Gedankensplitter in heilige Sätze, gliederten das Kunstwerk neu und schufen ein buntes Chaos aus Notizen mit Kapiteln, Abschnitten, und Offenbarungen.
Sie errichteten einen heiligen Schrein über dem Fundort, verteilten seine Schriften allüberall auf der bewohnten Welt, errichteten Burgen über den Tempeln, Haine rund um die Burgen. Und während sie die Welt weiter beackerten – mit Rad, Säge, Pfeilen und Schraubzwingen –, entdeckten sie: Auch diese Religion war ein Werkzeug. Nicht zum Schneiden, nicht zum Drehen, nicht zum Spalten. Sondern zum Suchen.
Sie suchten nach der verlorenen Begleiterin des Knaben, ohne dass sie wussten, wer sie sei: die Phantasie. Sie suchten nach jener leisen Gegenwart, die die Dinge zum Leuchten bringt. Und vielleicht – so flüstern jene Priester, die sich am besten mit dem auskennen, was keiner kennt – suchten sie am Ende nur nach dem Mädchen, das eines Tages, aus Gründen, die kein Mensch je erfahren wird, zurückgekehrt war in das Reich über den Sternen, wohin alle Phantasie sich einmal zurückziehen will, weil sie von dannen gekommen ist - vor langer Zeit, als das Wünschen noch half, die Tiere sprechen konnten und der Herrgott selbst auf Erden ging ...
Autor:Matthias Schollmeyer |
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