Reformationsgedanken
Die Kirche fällt als Anker aus

Michael Roth | Foto: Foto: Michael Farkas
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Die Kirchen sind im Ansehen der Menschen tief gefallen. Christ und Politiker Michael Roth (SPD) meint: Gerade die evangelische Kirche kann die Wende schaffen. Wenn sie nicht nur, enttäuschte Katholiken abwirbt. Sondern auch denen Angebote macht, die gar nicht gläubig sind.

Von Michael Roth

Die Kirche verliert. Dramatisch und unaufhaltsam: Mitglieder, Geld, Strukturen, Macht und Einfluss, Mitarbeitende, Sichtbarkeit, Glaubwürdigkeit und vor allem Relevanz. Die Zahlen sind erschreckend. Sicher nicht nur für gläubige Christinnen und Christen wie mich.

Allein im vergangenen Jahr verließen in Deutschland mehr als 520.000 Menschen die katholische, immer noch 380.000 die evangelische Kirche. Seit 1990 haben die christlichen Kirchen fast 17 Millionen Gläubige durch Austritt oder Tod verloren. Erstmals seit dem frühen Mittelalter sind inzwischen weniger als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung Mitglied einer Kirche.

Sogar in meiner nordhessischen Heimat mit einer traditionell prägenden und wirkmächtigen evangelischen Kirche wird man die Kirche nicht mehr im Dorf belassen können. Pfarrstellen werden abgebaut. Der Rückzug aus der Fläche ist unausweichlich. In einer nach Halt und Orientierung suchenden Gesellschaft fällt Kirche als Anker immer öfter aus.

Manche engagierte Christinnen und Christen dürften meinen nüchternen Befund als verletzend und anklagend empfinden. Leider fühlen sich auch in den Kirchen zumeist die Falschen angesprochen. Nach wie vor gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die unerschrocken Zuversicht ausstrahlen, und es gibt leidenschaftlich engagierte Gemeindemitglieder, selbstverständlich auch bei mir zu Hause.

Aber Kirche droht ihr eigenes Überleben immer weniger gestalten zu wollen. Sie verkämpft sich lieber, wirkt notorisch verschnupft, sieht sich als Opfer eines ignoranten Säkularismus und erwartet vom Staat bockbeinig Loyalität. Wofür eigentlich? Warum sind die Kirchen im Bewusstsein und Ansehen zu vieler Menschen so tief gefallen? Einige sehr subjektive Erklärungsversuche.

Erklärungsversuche

Die Missbräuche insbesondere von Kindern und Jugendlichen durch Repräsentanten der Kirchen sind keine Einzelfälle, sondern systemimmanent. Der Umgang der katholischen Kirche mit dem Unrecht hat die Sache nur noch verschlimmert: Entsetzliche Straftaten an Körper und Seele von Schutzbefohlenen wurden vertuscht, verharmlos, verneint. Vom Gemeindepriester über Bischöfe bis zum Papst. Die drei Affen, die sich in der Unart des Weghörens, Wegsehens und Schweigens üben, sind nichts gegen den katholischen Klerus.

Auch in der evangelischen Kirche haben sich Menschen schwer versündigt. Aber anstatt mit schonungsloser Aufklärung Maßstäbe zu setzen und sich klar und deutlich von den katholischen Brüdern zu distanzieren, gingen und gehen Verantwortliche der EKD eher nachsichtig mit der katholischen Kirche um.

Der sogenannte „Synodale Weg“, der, konsequent zu Ende gedacht, zur faktischen Abschaffung des Katholizismus führte, wurde von evangelischen Christinnen und Christen eben nicht genug dazu genutzt, auf ein sehr schlichtes Faktum hinzuweisen: die an Haupt und Gliedern reformierte, auf Gleichberechtigung und Gleichstellung, Teilhabe und Vielfalt fußende Kirche gibt es seit 1517 in Form des gelebten, dezidiert nicht fehlerlosen Protestantismus.

Ich bin mir sicher, einige engagierte Christinnen und Christen hätte man vom Austritt aus der (katholischen) Kirche abhalten oder zumindest vom Übertritt zur evangelischen Kirche überzeugen können. Eine vertane Chance der EKD, die nichts mit Entsolidarisierung unter Brüdern und Schwestern, sondern viel mit (un)versöhnter Verschiedenheit der Konfessionen zu tun hat.

Wo war Gottes Bodenpersonal?

Die Pandemie hat unsere Gesellschaft weit über das erträgliche Maß hinaus verwundet und durchgeschüttelt. Die Kirchen als Gemeinschaft der Heiligen und Gläubigen fanden keine probaten Mittel gegen das einsame Hinsiechen und Sterben in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder Wohnungen. Selbstverständlich standen die Kirchen und ihre Verantwortlichen loyal zu den staatlichen Regeln, um das Ausbreiten von Krankheit und Tod einzuhegen.

Aber zu oft blieb es dabei. Gelebte Zeichen der Hoffnung und Zuversicht blieben häufig aus. Kirchen waren im besten Falle orientierungslos, im schlimmsten Falle sprach- und empathielos. Wo war das Bodenpersonal eines gnädigen, mitfühlenden Gottes?

Anstatt die Idee des gerechten Friedens in Zeiten eines grausamen Angriffskriegs in unserer europäischen Nachbarschaft zum Klingen zu bringen und dafür zu streiten, käute man längst an der Wirklichkeit gescheiterte Phrasen eines aus der Zeit gefallenen Pazifismus wider. Andere beschrieben wortreich die Dilemmata einer Lehre, die den Frieden liebt, aber vor den russischen Aggressionen, Kriegsverbrechen und genozidalen Untaten zu kapitulieren scheint. Der irrlichternde Papst, dessen Relativismus von Täterschaft und Opfern schlicht beschämend ist, tat sein Übriges.

Nicht die pluralen, sich teils deutlich widersprechenden Aussagen innerhalb der EKD sind ein Problem. Zum Problem wurden die Kirchenpromis, die im Gewande von Bekanntheit und Popularität die öffentlichen Debatten einseitig prägten. Die klare Parteinahme mancher Kirchenleitungen für ukrainische Opfer, für das Recht auf Würde, Freiheit und Selbstbestimmung des angegriffenen Volks der Ukrainerinnen und Ukrainer, drang dagegen schlicht nicht durch. Lag das nun daran, dass Ex-Bischöfinnen so professionell oder die Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation der EKD so schlecht sind? Diese drei Beispiele des kirchlichen Versagens in der jüngsten Gegenwart sind sicher nicht vollständig.

Der säkulare Staat wird immer wieder falsch gedeutet. Die Bundesrepublik Deutschland ist eben kein laizistischer Staat wie Frankreich, sondern eine föderale Republik, die nicht nur bei Bildung, Gesundheit und Pflege auf eine nicht konfliktfreie, aber recht bewährte Partnerschaft mit den Kirchen blicken darf.
Die meisten Kontroversen sind nicht neu, werden aber heute deutlich schärfer ausgetragen. Ich denke hier vor allem an den seit der Weimarer Reichsverfassung bestehenden Auftrag, den Staat von historischen Finanzlasten zu befreien, oder auch an die Zukunft der vom Staat eingetriebenen Kirchensteuer. Anstatt mit eigenen Vorschlägen aufzuwarten und damit die skeptische Öffentlichkeit für sich einzunehmen, wartet man ab nach der Devise, dass es so schlimm schon nicht kommen werde.

Eigene Vorschläge Fehlanzeige

Die Kirchen sind Meisterinnen darin, ihnen wohlgesinnte Politikerinnen und Politiker, zu denen ich mich dezidiert auch zähle, anhaltend zu bearbeiten – am Status quo festhaltend, neuen Wegen aber kritisch gegenüberstehend. Der Staat möge die christlichen Kirchen vor allzu großen Zumutungen schützen, auch wenn sie längst nicht mehr die gesellschaftliche Mehrheit repräsentieren. Das ist der Anspruch. Eigene Vorschläge zur überfälligen Ablösung der Staatsleistungen sind ebenso Fehlanzeige wie Alternativen zur staatlichen Kirchensteuererhebung.

Was nun? Die Frage, wie wir es mit Spiritualität und Glauben in unserer diversen Gesellschaft halten, greift zu kurz. Ich fürchte, dass die Wichtigkeit der „letzten Dinge“ im Sinne Dietrich Bonhoeffers für (zu) viele Menschen begrenzt ist. Die Hoffnung auf Vergebung und Gnade, auf ein Leben nach dem Tod hat kaum noch Relevanz.

Leider haben es die Kirchen nicht vermocht, sich gegenüber „Kulturchristinnen und Kulturchristen“ offenherziger und einladender zu verhalten. Menschen, die sich nicht in erster Linie als gläubig ansehen, aber in eine christlich geprägte Gesellschaft hinein geboren wurden. Wo nur noch die Großmutter betete und ansonsten die Kasualien wie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen letzte Ankerpunkte zur verfassten Kirche waren.

Die Gefahr des erhobenen Zeigefingers

Die Kirche mochte solche Menschen eigentlich nie so richtig. Und das hat sie sie auch spüren lassen. Ich erinnere nur an manch arrogantes Naserümpfen gegenüber denjenigen, die – wenn überhaupt – nur zu Weihnachten und Ostern den Weg in einen Gottesdienst finden.

Ich kann uns gläubigen Christinnen und Christen nur empfehlen, distanzierte Schwestern und Brüder, denen der Glaube abhandengekommen zu sein scheint, bei den „vorletzten Dingen“ nicht alleine zu lassen, sie nicht wegzustoßen oder mit Missachtung zu strafen. Der erhobene Zeigefinger eines Pfarrers führt schneller zu einem Kirchenaustritt, als wir uns vorstellen können.

Und wenn die Austrittsprozedur nicht so bürokratisch wäre, täten es vermutlich noch viele, viele mehr. Ganz Ostdeutschland und die großen Städte zeigen es: Ein Leben ohne Gott und Glauben ist für breite gesellschaftliche Mehrheiten problemlos möglich.

Dennoch darf und kann Kirche nicht auf ihr Kerngeschäft verzichten. Im Gegenteil! Die Kirche muss wieder ein wunderbarer, begeisterungsfähiger Raum des Glaubens, des Zweifelns und der Hoffnung werden. Aber sie muss eben auch akzeptieren, Minderheit zu sein und wohl nie wieder eine dominante Rolle spielen zu können. Diese Einsicht mag schmerzen, ist aber unausweichlich. Sie könnte zu einer neuen Kultur der Gelassenheit, Offenheit und Sensibilität führen.

Privilegierte Mehrheiten neigen traditionell zu herablassender Attitüde, wenig Empathie für das Andere, Bockigkeit gegenüber Veränderungen. Ich rate dazu, die Brücken in unsere Gesellschaft dort auszubauen, wo Kirche unabweisbar und immer noch über „street credibility“ verfügt: Kultur, Soziales, Politik.
Ich kenne viele Menschen, die haben mit der organisierten Kirche nichts am Hut. Aber die Kirche im Dorf liegt ihnen am Herzen. Sie wollen, dass sie bleibt.

Sie sind dankbar für diese Monumente der Vergangenheit. Sie sind stolz auf Denkmäler und Kunstwerke und identifizieren sich mit ihnen. Sie erfreuen sich an Orgelkonzerten, Chorgesang und Krippenspiel. Kirche muss an vielem sparen. Aber nicht an kulturell bedeutsamen Gebäuden, an Kantorinnen und Musikevents. Kirchen sollten noch offener werden für Begegnungen und Gespräche, Streit und Austausch, Klassik und Pop, Konzerte und Lesungen, Kino und Café.

Manche denken bei gelebter Nächstenliebe an die Mega-Wohlfahrtskonzerne Diakonie und Caritas mit ihren bundesweiten Netzwerken an Kliniken, Kitas, Seniorenstiften, Migrationsberatungen, Wohnungslosentreffs und Bahnhofsmissionen. Ich bin mir nicht bei allen Krankenhäusern und Altenheimen so sicher, wo das christliche Profil den Unterschied ausmacht zu Angeboten von AWO, Rotem Kreuz, ASB und privaten Unternehmen.

Aber überall dort, wo die Kirchengemeinde vor Ort aktiv ist, sehe ich einen konkreten, spürbaren Mehrwert. Der mit Geflüchteten Fußball spielende Pfarrer, der wöchentliche Altentreff im Gemeindezentrum, der Eltern-Kind-Spielkreis, der Jugendtreff im Keller des Martin-Luther-Hauses. Hier agiert Kirche nicht wie ein Wirtschaftsunternehmen. Hier zeigt Kirche Herz und Gefühl, sichtbar und inklusiv. Hier kann Kirche noch andocken an die Lebenswirklichkeit vieler Menschen.

Und dann die Politik. Zweifellos ist einer kleinen, aber hörbaren Minderheit Kirche längst zu (partei-)politisch, zu konziliant gegenüber der Letzten Generation, zu grün, zu tagesaktuell. Meine Kirche pflanzt jetzt Bäume. Nun ja. Wenn Kirche nicht nur Dilemmata beschreibt, sondern pointiert Stellung bezieht, dürfte sie vermutlich manche Gemeindeglieder endgültig vertreiben. Aber die große Mehrheit wird den Mut zum Profil und Standpunkt, die Hinwendung zum respektvollen Streit, die Verteidigung der liberalen, sozialen und wertegebundenen Demokratie wertschätzen.

Wenn Kirche loslässt

Kirche hat es vielen Menschen und Gesellschaften nicht leicht gemacht. Heute hat sie es selbst nicht leicht. Aber es besteht Anlass zu Zuversicht, wenn sie sich reformiert. Sie kann aus einer Position der Schwäche wieder stärker werden – nicht quantitativ, aber qualitativ.

Dafür muss sie nicht mehr mit schierer Größe, Omnipräsenz, Tradition und Machtansprüchen überzeugen, sondern mit Leidenschaft, Offenheit, Selbstreflexion und Mut zur Klarheit. Wenn Kirche loslässt, wird sie manches gewinnen. Gewissheiten gibt es nicht. Aber einen Versuch wäre es wert.

Der Autor ist Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2004 Mitglied der Landessynode der Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck. Der Beitrag ist zuerst in der Tageszeitung "Die Welt" erschienen. Wir danken für die Abdruckgenehmigung.

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Online-Redaktion

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