Ein neues Miteinander
Das Seuchenparlament

Die Regeln sind klar: Höchstens zwei Minuten lang sollen die Aussagen sein. Eine Sanduhr rieselt exakt. Ermahnungen brauchte in Bad Berka indes niemand. | Foto: Paul-Philipp Braun
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  • Die Regeln sind klar: Höchstens zwei Minuten lang sollen die Aussagen sein. Eine Sanduhr rieselt exakt. Ermahnungen brauchte in Bad Berka indes niemand.
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Ein neues Miteinander: Die Pandemie beeinflusst das Leben seit mehr als zwei Jahren. Nikolaus Huhn hat eine Ebene geschaffen, auf der sich Menschen unterschiedlicher Meinung begegnen und Argumente austauschen können.

Von Paul-Philipp Braun

Zwei Stehtische aus Aluminium; an einem hängt ein Blatt mit der Aufschrift "Freiheit", auf dem anderen steht "Sicherheit". Verbunden durch ein blaues Seil, trennen die Positionen Menschen, die sich entlang der Linie aufgestellt haben. Denn während das Wort "Freiheit" eine Frau so sehr anzieht, dass sie sich neben den Tisch stellt, ist die Distanz aller Anwesenden zur "Sicherheit" etwas größer. Zwei Jahre Pandemie, in denen es vor allem um Sicherheit und Schutz verwundbarer Gruppen und funktionaler Systeme ging, werfen ihre Schatten.

Es ist die vorletzte Runde eines Abends, der in Bad Berka (Kirchenkreis Weimar) die Menschen in den Austausch zur aktuellen gesellschaftlichen Situation anregen soll. Nikolaus Huhn, gelernter Tischler, Autor, Energieberater und Aktivist aus Weimar, hatte unter dem Titel "Seuchenparlament" dazu eingeladen, Menschen ins Gespräch zu bringen. "Ich habe darauf geachtet, Menschen mit verschiedenen Standpunkten zur Pandemie und den Maßnahmen dagegen auszuwählen", erzählt Huhn und berichtet, dass er nach seinem Aufruf im Dezember vergangenen Jahres etwa 60 Bewerbungen um einen Platz im Seuchenparlament erhalten habe. 20 davon wählte er anhand ihrer Bewerbungen und eines zugehörigen Empfehlungsschreibens aus, 17 sind an diesem Abend im Zeughaus Bad Berka anwesend. "Ich habe mit allen Ausgewählten zuvor telefoniert und geschaut, ob sie sich überhaupt auf einen Dialog einlassen."

Der Ablauf an diesem Freitag ist streng vorgegeben: Nachdem Nikolaus Huhn die Regeln der Debatten erklärt hat, finden sich Zweiergruppen. Sie sprechen über die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre, lassen ihren Frust raus, und das Gegenüber schreibt die gewonnenen Erkenntnisse auf ein kleines Holzstück. Danach wechselt der Raum des Parlaments. Die Gruppe geht vor das Haus. Ein kleiner Kanonenofen ist bereits angeheizt, auf ihm kochen ein Topf mit Glühwein und eine Kanne mit Punsch. "Nun werfen wir unsere Frusthölzchen in den Ofen und verwandeln den Ärger in etwas, das uns wärmt", erklärt Nikolaus Huhn, der trotz niedriger Temperaturen im kurzärmeligen Hemd vor dem Zeughaus steht. Die Getränke vom Ofen lockern Runde und Zunge, die inhaltliche Arbeit kann beginnen.


"Wir verlieren einander immer mehr aus den Augen, und Corona-Fragen werden zu Fragen erster Ordnung, aber das sollen sie nicht"

Als die sprichwörtliche Aufwärmphase beendet ist, geht es wieder in den großen Saal. Kaum haben die Teilnehmer sich wieder in den zuvor eingerichteten Kreis gesetzt, fordert Huhn sie zur Bildbetrachtung auf. "Medusa" heißt das Werk, das der Veranstalter mittels Beamer an die Wand wirft und das für mehr als eine halbe Stunde Reflektionsgrundlage ist. Mit den Elementen des Bildes beschreiben sie ihre Gefühle und Erlebnisse, berichten von Sorgen, Ängsten und Nöten, die die Pandemie brachte, und wie sie in den vergangenen Jahren damit umgingen. "Ich habe keine Angst vor der Pandemie, bin aber über die Spaltung der Gesellschaft besorgt", sagt etwa eine Frau, während ein Mann – er erzählt, dass er Mediziner sei – betont: "Diese Pandemie war nicht vorstellbar und zeigt uns einmal mehr, dass wir mit der Endlichkeit leben müssen."

Nach der Bildbetrachtung kehrt Stille ein. Nur das Dröhnen des Beamer-Lüfters ist zu hören, und wenngleich die Schilderungen zuvor unterschiedlich waren, scheint das Seuchenparlament das Miteinander gefunden zu haben, kurz bevor Nikolaus Huhn an die blaue Linie bittet und so zur gewollten Polarisierung aufruft.

Die Gründe, wieso die Parlamentarier nach Bad Berka kamen, sind so unterschiedlich wie ihre Einstellung zu Corona und den Infektionsschutzmaßnahmen. Während Lea Hinze aus Tonndorf sich etwa Sorge um die "Zerrissenheit von Gemeinschaften" macht und die Eisenacherin Kerstin Rothe "einem inneren Impuls" folgte, war es für Jürgen Wellhöfer aus Bad Berka die Neugier. "Ich kam mir zunächst vor, als seien wir in einem therapeutischen Sitzkreis", sagt er und ergänzt: "Inzwischen ist es aber mehr als das. Es ist ein guter Austausch über Meinungen und Emotionen."

Eine Selbsthilfegruppe, das sei es irgendwie schon, lacht Nikolaus Huhn und sagt, dass es ihm dabei dennoch um mehr gehe: "Wir verlieren einander immer mehr aus den Augen, und Corona-Fragen werden zu Fragen erster Ordnung, aber das sollen sie nicht." Diese Befürchtung teilen viele der Anwesenden, die ganz unabhängig vom Impfstatus – Zutrittsvoraussetzung für alle ist ein negativer Corona-Test – an diesem Abend nach Bad Berka gekommen sind. Sie berichten von der Sorge um Abspaltung einzelner gesellschaftlicher Gruppen, Angst vor Ausgrenzung und Ärger über politisches Versagen beim Umgang mit dem tödlichen Virus. Um einander für diese Gefühle zu sensibilisieren, dem anderen zuzuhören und in den Austausch zu kommen, dafür sind sie da.

Hintergrund
Das Seuchenparlament fand zum ersten Mal in Bad Berka statt. Nikolaus Huhn möchte es aber auch an anderen Orten anbieten, um Menschen in den Dialog zu bringen. Der Titel ist dabei provokant gewählt, denn ein "echtes" Parlament sind die moderierten Gesprächsrunden nicht.

Autor:

Paul-Philipp Braun

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