„Wir schaffen das“
Wie ein Satz Karriere machte

Einsatz der Sea Watch-2 im Oktober 2016 im Mittelmeer | Foto: epd-bild/Christian Ditsch
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Manche Sätze haben's in sich. Ob „Wir schaffen das“, „Ich bin ein Berliner“ oder„I can't breathe“ - offenbar reichen manchmal wenige Worte für politischen Zündstoff.

Von Anita Hirschbeck

Angela Merkel hat einen Satz geklaut. Es geschah im August 2015 während einer Pressekonferenz zur Flüchtlingslage. Da sagte die Bundeskanzlerin: „Wir schaffen das.“ Seitdem kann kaum jemand mehr diesen Satz aussprechen, ohne an Merkel und das Thema Flüchtlinge zu denken - zumindest in Deutschland. Wer hierzulande Freunde, Kollegen oder Team-Kameraden motivieren möchte, muss nach einem anderen Ausspruch suchen. „Wir schaffen das“ ist seit fünf Jahren sozusagen belegt. Es gibt weitere Beispiele für solche Sätze. Selbst Menschen, die aus Berlin kommen, können nicht einfach so „Ich bin ein Berliner“ sagen. Die Worte sind fest mit John F. Kennedy verknüpft, der 1963 die geteilte Stadt besuchte. „I have a dream“ oder „Ich habe einen Traum“ erinnert an US-Menschenrechtler Martin Luther King, der „große Schritt für die Menschheit“ an die Mondlandung und „Hier stehe ich und kann nicht anders“ an Kirchenreformer Martin Luther.

Den Sätzen ist gemein: Sie sind kurz, klar und treffen in einer ganz bestimmten Situation den Nagel auf den Kopf. „Dieses Momentum ist nicht planbar“, sagt Kultursoziologe Ulrich Bröckling von der Universität Freiburg. Zwar würden Politiker darin geschult, griffige Formulierungen zu finden - und vermutlich träume jeder Werbetexter davon, einmal einen solchen Coup zu landen. „Aber man kann immer erst im Nachhinein sagen: Ah ja, das war so ein Satz.“ Um eine derartige Strahlkraft zu entwickeln, brauchen die Wortfolgen auch „symbolischen Gehalt“, glaubt Bröckling. Ein Beispiel ist „I can't breathe“ („Ich kann nicht atmen“) - wohl der Satz des Jahres 2020.

Der Afroamerikaner George Floyd sagte ihn mehrfach, als er auf dem Boden lag und ein weißer Polizist sein Knie in seinen Nacken drückte. US-weite Demonstrationen folgten auf Floyds Tod. Sein Hilferuf stehe eben nicht nur dafür, dass ein Mann körperlich ersticke, erklärt der Soziologe. Vor allem viele schwarze Amerikaner begriffen ihn als symbolhaften Ausdruck dafür, dass Rassismus ihnen die Luft zum Atmen, also ihre Freiheit, nehme. Und „Wir schaffen das“? Ursprünglich wollte Merkel wohl Zuversicht in einer herausfordernden Situation vermitteln. „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!“ lautet das ganze Zitat von August 2015. Merkel wiederholte die Kurzversion - die Medien, der politische Gegner und Innenminister Horst Seehofer (CDU) arbeiteten sich daran ab. „Wir schaffen das“ verharmlose die Probleme, waren sich die Kritiker einig. Später relativierte die Kanzlerin ihre Aussage. Der „Wirtschaftswoche“ sagt sie im September 2016, ihr Satz sei „fast zu einer Leerformel geworden“.

Ganz anders sieht das Gesellschaftswissenschaftler Matthias Junge von der Universität Rostock. „Dieser Satz enthält wahnsinnig viel“, betont er. Zum einen deuteten die Worte an, dass etwas zu tun sei. Es gehe um ein politisches Programm. Zum anderen hätten sie den einzelnen motiviert, selbst etwas zu tun. „Gerade im ersten Jahr war die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung enorm groß“, erinnert Junge. Im Laufe der Zeit sei aber klar geworden, dass mit dem „Schaffen“ eine Reihe neuer Probleme verbunden sei. Der Soziologe nennt die Unterbringung von Flüchtlingen als ein Beispiel. „Irgendwann ist der Satz gekippt.“ Hier habe auch die laufende Wiederholung von Merkels Aussage in den Medien eine Rolle gespielt.

Generell brauchen Sätze Öffentlichkeit, um eine Strahlkraft zu entwickeln. Dabei liegt der Vorteil kurzer Aussagen eben in ihrer Kürze. Die ist gut für Schlagzeilen und die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums wird nicht zu sehr beansprucht. Kurz bedeutet aber nicht gleich einfach. „Solche Sätze fordern zu einer Kommentierung und Vertiefung heraus“, sagt Junge. Im Laufe der Zeit werden immer mehr Argumente und Bedeutungsebenen mit einem Satz verknüpft. Sie stammen von Politik, Medien, Lesern, und so weiter. Am Ende hat also vielleicht gar nicht Merkel „Wir schaffen das“ geklaut. Diesen Satz haben sich alle gemeinsam und jeder für sich zu eigen gemacht.

(kna)

Autor:

Online-Redaktion

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