Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche
Die Spitze der Spitze des Eisbergs

Rund 880 Seiten Analyse: Die Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. | Foto: epd-bild/Jens Schulze
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  • Rund 880 Seiten Analyse: Die Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche.
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Von Katja Schmidtke, mit epd

Das Narrativ, die evangelische Kirche habe aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer Struktur ein geringeres Problem mit sexualisierter Gewalt als die katholische, fällt am Donnerstagnachmittag in sich zusammen. In Hannover hat der Forschungsverbund Forum Ergebnisse zu sexualisierter Gewalt in den evangelischen Kirchen und der Diakonie in Deutschland vorgestellt. Ermittelt wurden 1259 Beschuldigte und 2225 Betroffene. "Das ist noch nicht mal die Spitze des Eisbergs", sagte Professor Martin Wazlawik, Koordinator des Forschungsverbundes, zum Ausmaß des Missbrauchs. 

In einer "spekulativen Hochrechnung" ergäbe sich eine Zahl von insgesamt 9355 Betroffenen bei geschätzt 3497 Beschuldigten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.

"Schleppende Zuarbeit"

Strukturiert erfasst wurden Fälle, die den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannt sind, sowie die Disziplinarakten. Die systematische Analyse von Personalakten bleibe eine Lücke der Studie, obwohl sie  im Vorfeld vereinbart gewesen sei. Der forensische Psychiater Harald Dreßing sagte, aus den 20 Landeskirchen habe es lediglich eine «schleppende Zuarbeit» gegeben. 

Aus der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts ist bekannt, dass auch Personalakten durchgesehen wurden. Pfarrerin Dorothee Herfurth-Rogge von der EKM-internen Ansprechstelle zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, hatte zu Wochenbeginn der Kirchenzeitung bestätigt, dass 9000 Personalakten einem Screening unterzogen wurden. In Anhalt wurden Angaben von Oberkirchenrätin Franziska Bönsch zufolge 500 Personalakten untersucht. 

So habe sich der Forum-Verbund aus der Not heraus auf die Auswertung von Disziplinarakten beschränkt, so Psychiater Dreßing. Bei der sogenannten MHG-Studie, die 2018 für den Bereich der katholischen Kirchen vorgelegt wurde, hätten das die Diözesen besser hinbekommen als jetzt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), sagte Dreßing.

Hintergrund: Forum-Studie

Angeschaut haben sich die Wissenschaftler auch, ob es Unterschiede in der DDR und Westdeutschland gegeben hat. Fazit: sehr wenige. Kirchliches Handeln richtete sich auch im Osten zumeist an die Beschuldigten und Täter. Ihnen wurde Für- und Seelsorge zu teil. Sie wurden versetzt, auch mit Wissen der Kirchenleitungen.  Auch die Staatssicherheit habe Kenntnis von Missbrauchsfällen gehabt, sie sei damit ambivalent und instrumentell umgegangen.  Doch ob DDR oder alte BRD: Täterstrategien konnten in vielen Milieus ihre Wirkung entfalten, Mechanismen sexualisierter Gewalt seien wirkmächtiger als gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen, so Martin Wazlawik.

Missbrauch lasse sich nicht auf spezielle Bereiche wie die Heimerziehung oder liberale Sexualitätsdiskurse der 1970er Jahre eingrenzen. In nahezu allen Angeboten und Bereichen der evangelischen Kirche habe man eine Vielzahl von Fällen nachweisen können, konstatieren die Forscher.

Den Mythos eines evangelischen Selbstverständnisses, das Missbrauch quasi per se erschwere, konnten die Forscher widerlegen. So habe sich eine Reihe von evangelischen Besonderheiten gezeigt, die sexualisierte Gewalt ermöglichen und begünstigen können und die Aufarbeitung erschweren. So zum Beispiel: Eine Diffusion von Verantwortung in föderalen evangelischen Strukturen, der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur, die Selbsterzählung der Fortschrittlichkeit und die theologische Fokussierung auf Vergebung, die Betroffene unter Druck setzt. 

Die föderale Struktur der evangelischen Kirche stelle eine Herausforderung für den Umgang mit sexualisierter Gewalt dar. Die Ergebnisse der Analyse von bisherigen Aufarbeitungsprozessen verdeutlichen, wie unzureichend die bisher unternommenen Schritte der evangelischen Kirche und Diakonie sind. Klare Regeln zum Umgang mit bekannten Fällen sowie eine systematische Dokumentation fehlen bisher. 

"EKD ist zahnloser Tiger"

Katharina Kracht, die dem früheren Betroffenenbeirat der EKD angehörte und Mitglied im Beirat der Studie war, kritisierte den mangelnden Aufarbeitungswillen der evangelischen Kirche. Sie bezeichnet die EKD als zahnlosen Tiger. Aufarbeitung und Intervention finde in den Gemeinden und diakonischen Werken vor Ort statt - sie funktioniere dort aber vielfach nicht. "Es braucht Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in der Fläche", sagte Kracht. Wissenschaftler Wazlawik ergänzte, Landeskirchen dürften sich nicht hinter einer großen Studie und zentralen Stellen verstecken. 

Kracht forderte, Aufarbeitung als Recht der Betroffenen ins Kirchenrecht zu schreiben. Auch müsse der Staat Verantwortung übernehmen und bei der Aufarbeitung und Intervention unterstützen. Ratsvorsitzende Fehrs sagte, die EKD unterstütze staatliche Standards. 

Auch Detlev Zander vom Beteiligungsforum der EKD kritisierte die föderale Struktur als Hindernis für Aufklärung. Er sagte, die Betroffenen seien seit Jahren sprach- und handlungsfähig. Dies erwarte er nun auch von den Kirchen: "Fangt endlich an. Nehmt Betroffene ernst. Und wenn ihr sie hört, behandelt sie nicht als Opfer!"

Die Pfälzer Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst, Mitglied im Beteiligungsforum, kündigte an, dass im Beteiligungsforum Standards für die innerkirchlichen Anerkennungsverfahren und Anerkennungsleistungen geschaffen werden sollen.

Ratsvorsitzende Fehrs bat vor der Vorstellung der Studienergebnisse "von ganzen Herzen um Entschuldigung". Diese Bitte könne nur glaubwürdig sein, «wenn wir auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen». Und weiter: «Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut.» Ähnlich äußerte sich Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch: «Die Institution Diakonie hat in ihrem Schutzauftrag hier versagt.» Man werde Verantwortung übernehmen.

Zentrale Ergebnisse
Chronik: Missbrauchs-Aufarbeitung in der EKD
„Stehen in der Verantwortung, erlittenes Unrecht aufzuarbeiten“
Wir kratzen am Kern der Kirche
Autor:

Katja Schmidtke

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