Innehalten
Der Ruhe Raum geben

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Den Alltag einen Moment zu unterbrechen, tut gut und schützt angesichts wachsender Beschleunigung und des Drucks der Selbstoptimierung.

Von Günter Hänsel

Zwölf Uhr. Die Glocken läuten. Ich höre sie von Weitem. Ich halte an und werde ruhig. Ich schließe die Augen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf meinen Atem. Ich lebe! Mein Atem hält mich am Leben, versorgt mich und lässt mich in diesem Moment ganz ruhig werden. Mitten in der Stadt innezuhalten, um mein Tun einen kleinen Augenblick zu unterbrechen. Ich spüre, dass ich zur Ruhe komme. Meinen aufgewühlten Gedanken und meinen Gefühlen gebe ich jetzt einen Raum. So wie ich jetzt bin, bin ich vor Gott.
Den Alltag einen Moment zu unterbrechen und innezuhalten, sind Haltungen, die dem Leben guttun angesichts wachsender sozialer ­Beschleunigung und des Drucks der Selbstoptimierung. Das Leben als ständiges Abarbeiten von To-do-Listen – anstrengend! Es ist dadurch in Gefahr, einer völligen Erschöpfung zu unterliegen!

Deshalb bin ich davon überzeugt: Das Leben braucht Zeiten der Stille und der Unterbrechung – Freiräume! Zeiten des Innehaltens, des Hörens und Schweigens. Sie sind zweckfrei! Diese Zeiten und Orte laden dazu ein, das eigene Leben in einen weiten Horizont zu stellen und damit auf eine andere Weise zur Welt, zu sich selbst und zu Gott in Beziehung zu ­treten.

In der Schöpfungsgeschichte wird erzählt, dass Gott den siebten Tag segnet und heiligt. Gottes Ruhen am siebten Tag ist es, was dem Schöpfungswerk seine Vollendung verleiht. Vom Sabbat geht die befreiende Botschaft und Einladung aus, Stille und Ruhe einen Raum zu geben, damit die Seele neue Kraft schöpfen kann. Ruhezeiten können zu einem Ort der Gottesbegegnung werden.
Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt zur Bedeutung der Stille: „Die Stille lässt horchen. Sie geht mit einer besonderen Empfänglichkeit, mit einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit einher.“ Kritisch merkt er an: „Der heutige Zwang zur Kommunikation führt dazu, dass wir weder die Augen noch den Mund schließen können. Er entweiht das Leben.“

Das Wort Stille kommt von „stehen bleiben“. Still werden bedeutet also, dass ich stehen bleibe, um mich dem zuzuwenden, was mich gerade be-wegt und was ist. Im Stillwerden bin ich ganz bei mir. Meine Gefühle und Gedanken sammeln sich. Zerstreutes ordnet sich. Die leisen ­Stimmen in meinem Inneren kommen hervor und verschaffen sich Gehör. Stimmen, die ich sonst zurückgehalten habe, treten jetzt nach vorne.

Menschen suchen im Wald, in den Bergen, in Kirchen oder am Meer die Stille; so stellt sich während des Spaziergangs am Meer eine vollkommene und weite Stille ein. Ich erlebe, dass ich verwandelt vom Meer zurückkehre. In solchen Momenten erinnere ich mich an die Erfahrung des Elia. Nicht im Sturm, im Erdbeben oder im Feuer ist Gott, sondern in einem stillen, sanften Sausen (1. Könige 19,12). Im Leisen, im Zarten und im Stillen kann Gott ­erfahren werden. Zeiten der Stille ermöglichen Gotteserfahrungen! Die mystische Tradition erzählt in beeindruckender Weise davon, dass Wege in die Stille zu Gottesbegegnungen im Inneren des Menschen werden können. Die Theologin Dorothee Sölle drückt es mit den Worten aus, dass „in jedem Menschen ein winziges bisschen Gott versteckt ist, ein Funke – wie die Mystiker auch gesagt haben – von dem großen Funken. Ein Funke auch in dir“. Für sie ist auch klar: „Das Christentum des dritten Jahrtausends wird entweder mystisch oder untergehen.“

Im Stillwerden und dem Stehenbleiben werde ich achtsam und aufmerksam für den Augenblick. Im Aufmerksamsein stellt sich ein anderes Verhältnis zur Welt ein: Von der Not des Anderen lasse ich mich berühren. Der Reichtum des Lebens wird mir bewusst. Die Schönheit der Natur bewegt mich. In der Liebe und im Glück menschlichen Lebens erkenne ich Gott. Im Gelingen des Lebens erfahre ich etwas von Gottes Spuren und seinem lebendigen Geist in dieser Welt. In der Stille komme ich zur Ruhe und erfahre Klärung.
In all diesen Erfahrungen kann sich eine tiefe Verbundenheit alles Seienden einstellen. Sie werden zu Erfahrungen und Räumen, in denen Gott als Raum wahrgenommen wird, in dem wir „leben, weben und sind“ (Apostelgeschichte 17,28). Das Leben und seine Beziehungen werden als in sich verbunden und verwoben erfahren.

Solche Erfahrungen lassen sich nicht erzwingen, planen oder im Modus von Leistung, Beherrschung und Druck herbeiführen. Sie sind ein ­Geschenk. Unverfügbar. Möglich ist es, Freiräume zu schaffen, Orte, an denen ich aufatmen kann, zu suchen und Haltungen des Innehaltens, des Einlassens, des Verweilens, des Hörens, des „Einfach da seins“ einzuüben.

In der christ­lichen Tradition sind Formen und Wege eingeübt worden, die in die innere und äußere Stille führen und Räume eröffnen. Darin stellt sich eine tiefe Verbundenheit mit und in Gott ein. Rituale und Übungswege können Zeiten der Stille, das Betrachten einer Ikone, das Lesen biblischer Texte, die Meditation, zum Beispiel mit der Gebetsweise des „Herzensgebets“ sein. Aber auch das Singen, das Hören von Texten und Gesängen, das Schweigen, das Tanzen, das Pilgern, das Feiern des Gottesdienstes, eröffnen „Antworträume“ für die Sehnsucht und Begegnung mit Gott, der die Sehnsucht Gottes nach uns Menschen vorausgeht. Im Alltag kleine Zeiten des Innehaltens einzubauen, wäre ein schöner Anfang. Nur Mut dazu!

Autor:

Online-Redaktion

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