Predigttext
Der goldene Mittelweg

- hochgeladen von Mirjam Petermann
Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.Prediger 7, Vers 16
Das lässt aufhorchen. Ein eher seltener Klang im biblischen Kontext. Dort ist das Streben nach Weisheit und der Einsatz für Gerechtigkeit doch eher hoch angebunden.
Von Michael Nicolaus
Aber hier meine ich fast zu hören: Geh den goldnen Mittelweg, bohr eher das dünne Brett, such stets den Kompromiss, so ersparst du dir Ärger. Lass – vielleicht nicht alle fünfe – aber doch zwei, drei grade sein. Dem Schreiber ist der pädagogische Kniff, den Leser durch Provokation auf seine Botschaft aufmerksam zu machen, bei mir jedenfalls gelungen. Ich nehme den Satz und stelle ihn neben meinen Alltag, setze ihn in meinen Glauben, lege ihn aufs Kreuz.
Der waagerechte Balken weist mich an meine Mitmenschen, das soziale, gesellschaftliche Umfeld. „Sei nicht allzu gerecht.“ Ich werde fündig – Schulmeisterei. Wie das manchmal mein Nervenkostüm strapaziert; so viele Überschlaue und Moralapostel. Es mag sein, dass Vater Staat und Mutter Kirche mir etwas zu sagen haben. Aber sie sind nicht meine Erziehungsberechtigten. Während ich mir aufgeregt diese Besserwisserei verbitte, klopft ein unangenehmes Gefühl an die Schauspielergaderobe meines Herzens. Es ist zuerst der Satz vom Splitter und Balken (Matthäus 7, Vers 3). Und es folgen Erinnerungen, wo ich selbst belehrt und moralisiert habe.
Es gibt Erfahrungen in meinem Leben, da war ich „allzu gerecht“. Dafür schäme ich mich heute. Und höre zugleich den Einwand: Aber wir müssen uns doch auch zurechtweisen, etwas sagen, Grenzen ziehen dürfen. Im Wochenspruch (Daniel 9, Vers 18b) finden wir das Wort „Barmherzigkeit“.
Das ist eine Spur für mich: Ob kein Raum mehr für Güte, Nachsicht und Barmherzigkeit bleibt, wenn ich „allzu gerecht“ bin? Diese Frage wird mich begleiten. Wohl besonders, wenn sich Menschen in der Seelsorge mir anvertrauen. Und wenn ich Begleitung und Beichte brauche, dann sollte mein Seelsorger nicht „allzu gerecht“ sein. Sonst wäre der Mut, mich ganz zu öffnen, wohl bald verflogen.
Heute bin ich all jenen innerlich verbunden, die mir in meinen Unfertigkeiten und Halbherzigkeiten an der Seite blieben und mir Güte und Herz schenkten. Sie waren mir Wegbereiter und -begleiter, haben mich ermutigt und geprägt. Ich bin dankbar für alle, die mit mir nicht „allzu gerecht“ waren.


Autor:Online-Redaktion |
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