Rezension
Auf dem Narrenschiff

Foto: suhrkamp.de

Wann wird ein Schiff zum Narrenschiff? Wenn der Kapitän ein Narr ist, der Steuermann, der Schiffsarzt, die Crew und/oder die Passagiere? Nach 1494 Sebastian Brant und 1962 Katherine Anne Porter nun also 2025 Christoph Hein mit der Schilderung eines solchen Narrenschiffs.

Von Joachim Goertz

Ein epochaler Roman über dieses merkwürdige Gebilde namens DDR und denen mit ihm verbundenen Erwartungen, Ansprüchen, und zu Grabe getragenen oder zum Scheitern verurteilten Hoffnungen. Den historisch und literarisch interessierten, bildungsgewissen Zeitgenossen oder Nachgeborenen in Ost und West hinterlässt die Lektüre in vielerlei Hinsicht bereichert an Erkenntnissen über Bewusstsein und Sein im Osten Deutschlands.

Nicht von ungefähr steht der Roman von Hein seit Wochen auf den Bestsellerlisten in Deutschland ganz weit oben (aber da steht auch Egon Krenz mit dem 3. Teil seiner Memoiren). Er hat wohlwollende Besprechungen erfahren (unter anderen von Marko Martin im Deutschlandfunk), die Kritik des nach seiner voluminösen Ulbricht-Biographie dazu prädestinierten Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk wurde von ihm bisher nur angedeutet.

Die Geschichte der DDR einmal 35 Jahre nach ihrem Untergang aus der Perspektive der sie tragenden Funktionäre zu schildern, ohne sich in billiger Rechtfertigung zu verlieren, ist ein spannendes Unterfangen, freilich mit erheblichen Risiken behaftet. Die sind aber nur scheinbar harmloser als die, denen die Protagonisten des Romans ausgesetzt sind. Würde uns die Schilderung des Lebens von Funktionärsfamilien, ihren Ängsten, ihren Verbiegungen und Verkrümmungen, ihrem Verschweigen und ihren Enttäuschungen interessieren, wenn sie nicht eingebettet würden in die große Geschichte?

Der Neubeginn nach der Kapitulation Nazideutschlands, der Volksaufstand vom Juni 1953, der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, der Mauerbau im August 1961, der Kahlschlag in der Kultur- und Wirtschaftspolitik 1965, die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und der Herbst 1989 sind die Wegmarken, an denen Hein die Geschicke von Johannes und Yvonne Goretzka und deren Kindern Kathinka und Heinrich und Enkeln, die von Karsten und Rita Emser und von Benaja Kuckuck schildert.

Auch von einem solch ambitionierten Roman kann man freilich nicht verlangen, dass er in jedem Punkt auf dem neuesten Forschungsstand der Geschichtsschreibung sich bewegt. Aber die Kolportierung von Geschichtslegenden zu hinterfragen, darf auch vor einer literarischen Fiktion nicht Halt machen.

Zwei solcher Erzählungen transportiert Hein. Zum einen habe Walter Ulbricht erst auf Intervention Moskaus die ehemaligen Ostgebiete Deutschlands “aufgegeben”, zum anderen habe Honecker nur mit massiver persönlicher Gewaltandrohung Ulbrichts Rücktritt erzwingen können.

Heins Kronzeuge ist dabei Markus Wolf, der im Roman als Markus Fuchs schon in dieser Zeit deshalb das ZK der SED verlassen möchte. Dass da noch nebenbei die als solche nachgewiesene Lüge kolportiert wird, dass die Hauptverwaltung Aufklärung ja nichts mit der Bespitzelung von DDR-Bürgern zu tun haben wollte oder gar hätte, ist auch dann mindestens ärgerlich, wenn es nicht beabsichtigt war. Dagegen geht eine Bemerkung, dass Moskau sich bis zuletzt ernsthaft um die Befreiung von Ernst Thälmanns aus dem KZ Buchenwald bemüht habe, fast schon unter. Deutlich wird aber, warum viele auch in Ostdeutschland heute noch der Meinung sind, dass der Untergang der DDR die Opfer des 2. Weltkrieges nutzlos erscheinen lässt und Grundgesetz und Grundbucheintragung nicht kompatibel sind.

Zum Schluss einige mir aufgefallene “Fehler” in der Darstellung Heins (sicher ergänzungsbedürftig):
-Chrustschow wurde erst 1958 Vorsitzender des Ministerrates der UDSSR.
-Der Personenschutz des MfS war nicht der HVA unterstellt.
-An den staatlichen Schulen der DDR gab es im geschilderten Zeitraum Direktoren, nicht Rektoren.
-Die Demozahlen nach dem 9.11.1989 gingen nicht zurück, sondern stiegen insgesamt.

Christoph Hein hat seinen Roman in 4 Bücher geteilt, Knapp 600 Seiten des 751 Seiten umfassenden Werks davon widmen sich der Zeit zwischen 1945 und 1971. Dass die 70-und 80iger Jahre auf den restlichen 150 Seiten vergleichsweise zu kurz kommen, ist bedauernswert, aber nachvollziehbar-der Rezensent verbietet sich allerdings, in diese dramaturgische Entscheidung etwas hineinzuinterpretieren. Hein hat ja mit “Der fremde Freund (Drachenblut), “Horns Ende”, “”Die Ritter der Tafelrunde”, Der Tangospieler” diese Zeit bereits literarisch verarbeitet.

Gut lesbar-nicht immerzu, zwiespältige Gefühle hinterlassend, nicht nobelpreisverdächtig, trotzdem herausragend in der ostdeutschen literarischen Landschaft.

Hein, Christoph: Das Narrenschiff, Suhrkamp, 751 S., ISBN 978-3-518-43226-6, 28 Euro

Autor:

Online-Redaktion

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

40 folgen diesem Profil

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Video einbetten

Es können nur einzelne Videos der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Playlists, Streams oder Übersichtsseiten.

Abbrechen

Karte einbetten

Abbrechen

Social-Media Link einfügen

Es können nur einzelne Beiträge der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Übersichtsseiten.

Abbrechen

Code einbetten

Funktionalität des eingebetteten Codes ohne Gewähr. Bitte Einbettungen für Video, Social, Link und Maps mit dem vom System vorgesehenen Einbettungsfuntkionen vornehmen.
Abbrechen

Beitrag oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Schnappschuss einbetten

Abbrechen

Veranstaltung oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.