Blickwechsel
Estland: Keine apokalyptische Stimmung

"Das Gebet ist eine Kraft" sagt der Tallinner Dompfarrer Arho Tuhkro. | Foto: pixabay.com/de, Alexas_Fotos
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Ganze 380 Kilometer liegen Tallinn und Sankt Petersburg auseinander. Doch die estnische Hauptstadt und die russische Metropole trennen Welten. Spätestens seit dem 24. Februar. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat im baltischen Staat die Erinnerung an die Vergangenheit wieder hochkommen lassen.

Von Günter Saalfrank

»Für die Esten ist der Krieg wie das Trauma des Zweiten Weltkriegs«, meint Pfarrer Matthias Burghardt. Der aus Deutschland stammende Geistliche betreut eine Gemeinde nahe Tallinn und die deutschsprachige evangelische Gemeinde in der estnischen Hauptstadt. »Die Befürchtung anfangs war, dass die baltischen Staaten die nächsten sind, die angegriffen werden.« Aus russischer Perspektive liege Tallinn kurz vor St. Petersburg: »Wenn Putin und seine Leute sich die Landkarte anschauen, können sie leicht auf diesen Gedanken kommen.«

Durch den Widerstand der Ukrainer sowie die Unterstützung aus Europa und den USA hat sich Burghardt zufolge das Blatt gewendet. »Wir fühlen uns im Moment verhältnismäßig sicher«, so der Theologe. Das hänge auch mit dem Nato-Beitritt der baltischen Staaten zusammen. 2004 hat sich Estland dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis angeschlossen. »Dieser Beitritt war die Versicherung dafür, dass der russische Imperialismus gebremst wurde.«


»Mit Hilfe Europas und mit militärischer Hilfe kann Gott den Krieg in der Ukraine beenden«

Trotz der gefühlten Entspannung ist der Ukrainekrieg weiter bestimmendes Thema in der evangelischen Kirche in Estland. Vor allem in Predigten und Fürbitten wird daran gedacht. »Kein Gottesdienst, ohne für die Menschen in der Ukraine und für die Flüchtlinge zu beten«, berichtet der Tallinner Dompfarrer Arho Tuhkro. Und er verweist darauf, dass für beide Seiten der kriegerischen Auseinandersetzungen die Hände gefaltet werden. »Das Gebet ist eine Kraft«, betont er. »Mit Hilfe Europas und mit militärischer Hilfe kann Gott den Krieg in der Ukraine beenden.«

Bei Kriegsausbruch am 24. Februar begingen die Esten ihren Nationalfeiertag. Die evangelische Kirche nahm in Gottesdiensten gleich Stellung gegen den Krieg. Der Metropolit der russisch-orthodoxen Kirche in Estland distanzierte sich inzwischen vom Vorgehen in der Ukraine. »Das Bombardieren von Menschen ist Sünde«, erklärte der Repräsentant der orthodoxen Kirche. Er verurteilte damit zwar nicht den Krieg, aber zog doch erkennbar eine rote Linie. Rund 30 000 Flüchtlinge aus der Ukraine hat Estland mittlerweile aufgenommen – für den kleinsten baltischen Staat mit seinen 1,3 Millionen Menschen eine enorme Herausforderung. »In der Bevölkerung besteht ein großer Konsens zu helfen«, berichtet Pfarrer Burghardt. Kritische Stimmen oder gar Gemurre seien nicht zu hören. Die Esten denken: »Hätten die Russen uns angegriffen, wären wir nun auf der Flucht.«

Die evangelische Kirche in Estland mit ihren 150 000 getauften Mitgliedern hat für die Flüchtlingshilfe einen Sonderfonds von 20 000 Euro aufgelegt. Wichtig sei – so Ökumenereferentin Kadri Pöder, die lutherischen Gemeinden in der Ukraine direkt zu unterstützen: »Geld hilft hier am meisten.« Zudem werde Neuankömmlingen in Estland und humanitären Organisationen geholfen. 70 Seelsorgerinnen und Seelsorger betreuten im Auftrag des estnischen Sozialministeriums die oft traumatisierten Flüchtlinge. »Sie brauchen nicht nur materielle Hilfe«, unterstreicht Pöder. Die Hilfe für die Flüchtlinge und die Menschen in der Ukraine erfordert nach Ansicht von Dompfarrer Arho Tuhkru einen langen Atem: »Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Unterstützung nicht nur für wenige Monate ist, sondern wohl für mehrere Jahre.« Die Diakonie übernimmt lokale Essensausgaben, Kirchengemeinden kümmern sich um Kleider- und Lebensmittelspenden oder sorgen auf andere Weise für Flüchtlinge.

Von apokalyptischer Stimmung ist in Estland nichts zu spüren. Pfarrer Burghardt bringt es so auf den Punkt: »Ich sehe nicht die letzten Tage unserer Welt, sondern die letzten Tage des Putinschen Systems.« Und er fügt hinzu: »Ich habe das Gefühl, dieses kann nicht mehr lange gut gehen.«

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Online-Redaktion

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