NS-Zeit
Zwangsarbeit hinter Nadelbäumen

Vor fremden Blicken durch Nadelbäume geschützt und weitreichend umzäunt liegt sie da, in sattem Grün, ganz friedlich und ruhig. Doch was sich in dem Wald zwischen den Orten Liebenau und Steyerberg bei Nienburg vor 1945 zugetragen hat, war hochexplosiv: Auf zwölf Quadratkilometern errichteten die Nationalsozialisten ab 1939 unter strengster militärischer Geheimhaltung einen der größten deutschen Rüstungsbetriebe. | Foto: Gedenkstaette Liebenau/Wittenberger
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  • Vor fremden Blicken durch Nadelbäume geschützt und weitreichend umzäunt liegt sie da, in sattem Grün, ganz friedlich und ruhig. Doch was sich in dem Wald zwischen den Orten Liebenau und Steyerberg bei Nienburg vor 1945 zugetragen hat, war hochexplosiv: Auf zwölf Quadratkilometern errichteten die Nationalsozialisten ab 1939 unter strengster militärischer Geheimhaltung einen der größten deutschen Rüstungsbetriebe.
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Jahrzehntelang blieb verborgen, was sich vor 1945 in einem unscheinbaren Waldstück zwischen Hannover und Bremen abspielte. Die Nazis betrieben dort mit Zwangsarbeitern eine riesige Rüstungsfabrik. Seit November erinnert eine Gedenkstätte daran.

Von Michael Grau (epd)

Vor fremden Blicken durch Nadelbäume geschützt und weitreichend umzäunt liegen die Gebäude noch da, in sattem Grün, ganz friedlich und ruhig. Doch was sich im Wald von Liebenau zwischen Bremen und Hannover vor 1945 zugetragen hat, war hochexplosiv: Auf zwölf Quadratkilometern errichteten die Nationalsozialisten hier ab 1939 unter strengster militärischer Geheimhaltung einen der größten deutschen Rüstungsbetriebe: die Pulverfabrik Liebenau. Tarnname: «Anlage Karl». An diese todbringende Fabrik erinnert seit November Deutschlands aktuell jüngste Gedenk- und Bildungsstätte. «Sie bietet einen Einblick in den Alltag von Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit», sagt Leiter Martin Guse.

In einem ehemaligen Schulgebäude zeigen der gelernte Sozialarbeiter und sein Team, auf welche Weise die Nazis das Pulver produzierten, das bei Granaten oder Raketen als Treibmittel zum Einsatz kam. Rund 20.000 Zwangsarbeiter aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich oder Italien mussten dafür Chemikalien mischen, durch die sich Haut und Haare verfärben konnten. Dazu dienten rund 400 dickwandige und teils unterirdische Bunker. Rund 2.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene kamen dabei ums Leben: durch Krankheit, Erschöpfung und Hinrichtung. Oder durch Unfall: Schon ein Funke konnte die Stoffe zum Explodieren bringen.

24 Jahre haben Guse (62) und sein Team dafür gekämpft, die Gedenkstätte errichten zu können. «Zunächst auch gegen Widerwillen, und ohne Geld.» Auslöser war der Besuch einer ehemaligen Zwangsarbeiterin aus der Ukraine, die 1998 noch einmal an den Ort zurückkehrte, an dem sie die schlimmsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. «Wir haben ihr und den anderen Zwangsarbeitern versprochen, dass es einmal einen Ort geben wird, an dem ihr Schicksal dargestellt wird», sagt Guse. «Und wir haben unser Versprechen eingelöst.»

Dafür war viel Überzeugungsarbeit nötig. Denn anfangs wollten viele im Dorf und der Region nichts wissen von dem Munitionswerk vor ihrer Haustür. «Die Deutschen wollten keine Täter sein.» Guse und etwa 20 Jugendliche aus dem 4.000-Einwohner-Ort wollten sich mit dem Schweigen aber nicht abfinden. Hartnäckig begannen sie zu recherchieren, sichteten in Archiven alte Dokumente und erforschten die Biografien der Zwangsarbeiter. «Wir haben uns immer gefragt: Was ist da damals wohl hinter dem Zaun passiert?», erzählt Markus Sieling (39), heute kommunaler Jugendpfleger.

Auf vier Etagen und rund 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche öffnet sich jetzt der Blick in die Vergangenheit. Fotos, historische Exponate und Tonaufnahmen von Überlebenden zeigen den Alltag in der Rüstungsfabrik, die von acht Lagern umgeben war. Die Osteuropäer waren in Holzbaracken mit Stacheldrahtzaun zusammengepfercht, unter ihnen Männer, Frauen und Kinder. Sie mussten täglich zu Fuß kilometerweit zum Werk laufen. Wer nicht funktionierte, musste mit härtesten Strafen im sogenannten Arbeitserziehungslager rechnen, sagt Guse: «Sie wurden mit Knüppeln erschlagen, erschossen oder durch den Strang hingerichtet.»

Aus der Luft sollte die Fabrik nicht erkennbar sein. «Die von den Nazis beauftragten Firmen hatten zur Tarnung vor Flugzeug-Angriffen die flachen Betondächer mit Nadelbäumen bepflanzt.» Heute sind die Ruinen verfallen und überwuchert. Aber sie geben noch ein Bild ab von dem, was damals geschah. 74 Führungen über das Werksgelände haben Martin Guse und seine Kolleginnen Katharina Winter und Sabine Schwanbeck im vergangenen Jahr organisiert - für Schulklassen und Einzelbesucher. «Die meisten reagieren positiv darauf, weil die Geschichte für sie hier greifbar wird.»

Hinter dem weitläufigen Werk stand ein ausgeklügeltes System von Zwangsarbeit, erläutert Guse. «Im Arbeitserziehungslager vermietete und verkaufte die Gestapo männliche Häftlinge an die Pulverfabrik - und verdiente dabei noch gut.» Die Aufgaben waren gigantisch: Mehr als 200 Kilometer Kabel für Licht und Strom wurden von der Firma «Eibia» aus Walsrode im Auftrag des Oberkommandos des Heeres gezogen,
84 Kilometer Betonstraßen gebaut und 42 Kilometer Schienen verlegt.
Bis 1945 produzierte das Werk mehr als 41.000 Tonnen Pulver, darunter Röhrchen-, Plättchen-, und Ringpulver sowie Starthilfen für Flugzeuge und Raketen. Der Wasserverbrauch übertraf zeitweise den der Stadt Bremen.

Wegen seiner Erinnerungsarbeit galt Martin Guse anfangs manchen im Dorf als Störenfried. Doch inzwischen unterstützen viele Bewohner seine Tätigkeit. So stellt die Samtgemeinde der Gedenkstätte das frühere Schulgebäude unentgeltlich zur Verfügung. Außer den Ausstellungsflächen sind eine Bibliothek, Büros sowie Vortragsräume entstanden. Sogar Schlafsäle soll es bald geben, damit Schulklassen hier übernachten können: «Auch ehemalige Kritiker haben gemerkt, dass hier gar nichts Schlimmes passiert», sagt Guse.

Autor:

Katja Schmidtke

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