Erinnerung an Wehrkraftdeserteure
Sand im Getriebe der Welt

Das Mahnmal entstand nach einem Entwurf des Erfurter Künstlers Thomas Nicolai. Sieben der acht Metallstelen sind starr dargestellt, eine einzelne gebogen. Sie scheint sich aus der Reihe abzuwenden und symbolisiert damit den Deserteur. | Foto: Paul Philipp Braun
13Bilder
  • Das Mahnmal entstand nach einem Entwurf des Erfurter Künstlers Thomas Nicolai. Sieben der acht Metallstelen sind starr dargestellt, eine einzelne gebogen. Sie scheint sich aus der Reihe abzuwenden und symbolisiert damit den Deserteur.
  • Foto: Paul Philipp Braun
  • hochgeladen von Online-Redaktion

Vor 30 Jahren: Am 1. September 1995 wurde in Erfurt ein Denkmal für Wehrmachtsdeserteure errichtet. Das Mahnmal, das auf Initiative eines breiten Bündnisses entstand, dem auch Kirchenvertreter angehörten, war umstritten. Heute blicken die Akteure zurück und thematisieren in einer Veranstaltungsreihe aktuelle Fragen um Krieg und Frieden.

Von Bettina Röder

Wer jemals Ludwig Baumann begegnet ist, vergisst das sein Leben nicht. Der unbeugsame Deserteur aus Zeiten der NS-Wehrmacht und Symbol für den aufrechten Gang, ging vor seinem Tod im Jahr 2018 stets leicht gebeugt. Auch seine Ohren wollten nicht mehr so recht. Vielleicht mussten sie zu oft Beleidigungen hören: „Feigling“ oder „Vaterlandsverräter“ oder „Dreckschwein“. Doch er ließ sich nicht kleinkriegen. Seinem jahrelangen Kampf ist es zu verdanken, dass der Bundestag 2002 – fast fünf Jahrzehnte nach Kriegsende – alle Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“, „Kriegsverräter“ der Nazizeit rehabilitiert hat.

Sieben Jahre zuvor, 1995, als die Auseinandersetzung um dieses Thema tobte, hatte Ludwig Baumann das Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur auf dem Erfurter Petersberg vehement unterstützt, war selbst da gewesen. War es doch ein wichtiger Beitrag für die Rehabilitierung der Deserteure, wie sich die Darmstädter Professorin Julika Bürgin, damals Referentin beim DGB, erinnert.

Mit anderen hatte sie erstritten, dass das Denkmal schließlich am 1. September 1995 eingeweiht wurde. Heute blicken Akteure auf dieses Datum zurück und fragen nach Krieg und Frieden im Lauf der Zeit. Ludwig Baumann hätte es wohl gefreut. Denn es geht um eine Veranstaltungsreihe, die großen Anklang findet.

Davon jedenfalls berichtet Martin Rambow. Der ehemalige Pfarrer der Erfurter Thomaskirche, der heute in Weimar lebt, gehörte nicht nur zu den Initiatoren des umstrittenen Denkmals. Er hat mit zahlreichen weiteren Akteuren aus Gewerkschaften, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Initiativen ein mehrmonatiges Programm auf die Beine gestellt: von Ausstellungen über Podien und Vorträgen bis hin zu Gesprächen mit Zeitzeugen.

Allein viereinhalbtausend Menschen besuchten in vier Wochen die Erfurter Michaeliskirche. Dort war die Wanderausstellung des Berliner Antikriegsmuseums “Entfernung von der Truppe“ zu sehen. Sie zeigt die Schicksale von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren, aber auch das gnadenlose Töten und Sterben im Krieg. Wie die anderen Veranstaltungen buchstabiert sie den Krieg aus der Perspektive seiner Verweigerer.

Und natürlich wird am 1. September an die Einweihung des Denkmals vor 30 Jahren erinnert. Inzwischen haben es Tausende von Menschen in der Landeshauptstadt besucht: acht Metallstelen des Thüringer Künstlers Thomas Nicolai. Ihre Anordnung in zwei Viererreihen erinnert an die Gasse eines Spießrutenlaufs. Eine Stele ist auffallend anders gestaltet, sie soll den Fahnenflüchtigen symbolisieren. In gut 20 deutschen Städten gibt es inzwischen solche Denkmale, um die allesamt erbittert gestritten wurde. Auch der ehemalige Ministerpräsident Bodo Ramelow gehörte damals in Erfurt als Gewerkschafter zu den treibenden Kräften für das Denkmal.


"Das war eine Lebensentscheidung. Das totale Nein zum Krieg."

Die Gesamtzahl ermordeter Deserteure der Wehrmacht ist nicht ermittelt. Schätzungen gehen von mehr als 20 000 Hinrichtungen aus, 40 davon vermutlich auf dem Petersberg. Eine Bronzetafel vor dem Denkmal trägt die Aufschrift: Dem unbekannten Wehrmachtsdeserteur – Den Opfern der NS-Militärjustiz – Allen, die sich dem Naziregime verweigerten. „Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ Dass diese Botschaft des Hörspielautors und Lyrikers Günter Eich hier zu lesen ist, dafür hat Martin Rambow gesorgt. Wie andere Unterstützer des Denkmals aus der kirchlichen Friedensbewegung der DDR von Heino Falcke bis Christoph Demke hat auch ihn sein Lebensweg damals geprägt.

1965 hat er mit 18 Jahren den DDR-Wehrdienst total verweigert. Drei Jahre zuvor, 1962, wurde in der DDR die Wehrpflicht eingeführt. Totalverweigerern drohten zwei Jahre Haft. Ihre einzigen öffentlichen Fürsprecher waren die evangelischen Kirchen, die nicht nur fachliche Beratung und seelsorgerliche Begleitung anboten, sondern in den Gottesdiensten auch namentliche Fürbitte für inhaftierte Verweigerer hielten. Im gleichen Jahr veröffentlichten sie eine Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen, in der die Verweigerung als das „deutlichere Zeichen des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn“ bezeichnet wurde. Vor allem auf Drängen der evangelischen Kirchen hatte die DDR – als einziges Land im Warschauer Pakt – schon 1964 mit der sogenannten Bausoldatenverordnung eine waffenlose Alternative zum Wehrdienst eingeführt.

Doch auch die kam für Martin Rambow nicht in Frage. „Das war eine Lebensentscheidung. Das totale Nein zum Krieg“, sagt er. Daran hat sich für ihn bis heute nichts geändert. Später, erinnert er sich, sei er beruflich als Pfarrer immer wieder Menschen begegnet, die diese Frage umgetrieben hat. Dabei geholfen habe ihm immer wieder das, was der Kirchenbund in der DDR und seine Theologische Studienabteilung verbreitet haben – die Materialsammlung „Erziehung zum Frieden“ beispielsweise, die 1978 als Reaktion auf die Einführung des Wehrunterrichts an den Schulen der DDR zusammengestellt worden war. Es folgen Friedensaktionen und Friedensgebete, Anfang der 80er-Jahre die Friedensdekaden.

So wird es auch in der aktuellen Veranstaltungsreihe, wenige Tage vor dem 1. September, in der Erfurter Lorenzkirche angesichts der aktuellen Kriege weltweit ein ökumenisches Friedensgebet geben. Dieser Ort ist mit Bedacht gewählt. Hier fand 1978 das erste ökumenische Friedensgebet in der DDR statt. Als klare Antwort auf die zunehmende Militarisierung aller gesellschaftlicher Bereiche in der DDR. Es war ein Baustein zur Friedlichen Revolution 1989.

Diesem Erbe hat Ludwig Baumann durch sein unerschütterliches Engagement für die Anerkennung der Wehrmachtsdeserteure eine unverwechselbare Aktualität verschafft. „Die Liebe zum Leben“ ist der Titel eines Dokumentarfilms der Bremer Filmemacherin Annette Ortlieb über Ludwig Baumann, der auch nachfolgenden Generationen das bewegende Leben eines Menschen erzählt, der aus Tiefen immer wieder aufgestanden ist. Am Ende der Erfurter Veranstaltungsreihe wird der Film am 17. November in Anwesenheit der Regisseurin im Augustinerkloster gezeigt.

deserteursdenkmal-erfurt.de

Gedenken
Zu einem Friedensgebet sowie Gedenken an die Errichtung des Mahnmals vor 30 Jahren mit Regionalbischöfin Friederike F. Spengler und dem katholischen Bischof Ulrich Neymeyr wird eingeladen am 28. August, 17 Uhr, in die Lorenzkirche Erfurt. Im Anschluss um 18 Uhr soll es ein Gedenken am Mahnmal auf dem Petersberg mit Pfarrer Martin Rambow geben.

Autor:

Online-Redaktion

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

41 folgen diesem Profil

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Video einbetten

Es können nur einzelne Videos der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Playlists, Streams oder Übersichtsseiten.

Abbrechen

Karte einbetten

Abbrechen

Social-Media Link einfügen

Es können nur einzelne Beiträge der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Übersichtsseiten.

Abbrechen

Code einbetten

Funktionalität des eingebetteten Codes ohne Gewähr. Bitte Einbettungen für Video, Social, Link und Maps mit dem vom System vorgesehenen Einbettungsfuntkionen vornehmen.
Abbrechen

Beitrag oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Schnappschuss einbetten

Abbrechen

Veranstaltung oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.