Zur Glaubensserie (6)
Reden mit Gott – Das Vaterunser

In Gemeinschaft gesprochen: Das Vaterunser ist das bekannteste Gebet der Christen, es geht auf Jesus selbst zurück. In zwei Evangelien ist überliefert, wie Jesus seine Jünger damit zu beten gelehrt hat.   | Foto: epd-bild/Tim Wegner
  • In Gemeinschaft gesprochen: Das Vaterunser ist das bekannteste Gebet der Christen, es geht auf Jesus selbst zurück. In zwei Evangelien ist überliefert, wie Jesus seine Jünger damit zu beten gelehrt hat.
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Vater unser: Jesus betete in Gethsemane, und er betete am Kreuz. Das Vaterunser als Gebet der Bergpredigt ist das bekannteste Gebet der Christenheit. Es zeigt ein besonders inniges Verhältnis zu Gott. Neue Erkenntnisse zu einem alten Gebet.

Von Werner Küstenmacher

Ich war 25 Jahre lang Teil eines aufregenden Projekts – des meistbesuchten Gottesdienstes in Deutschland, jeden Sonntag rund eine Million Besucher. Er besteht aus Predigt, Musik, Segen und Vaterunser: die Sendung »Evangelische Morgenfeier« in Radio Bayern 1, danach oder davor kommt die »Katholische Morgenfeier«. Etwa 100 Mal habe ich sie gestaltet – und mich jedes Mal verliebt in dieses Gebet, das wörtlich von Jesus überliefert ist und voller Rätsel steckt.

Himmel

Wir sagen »Vater unser im Himmel«, im griechischen Text aber steht die Mehrzahl: »en tois uranois«, in den Himmeln. Ich hielt das für nebensächlich, bis ich von neuen astronomischen Theorien hörte. Möglicherweise gibt es neben unserem Universum weitere, in anderen Welten.

Der polnische Astrophysiker Nikodem Poplawski vermutet, dass jedes der Abermilliarden schwarzen Löcher unseres Alls in ein weiteres All führt und wir im Inneren eines schwarzen Lochs leben. Seitdem sage ich gern für mich »in den Himmeln«. Vielleicht wollte Jesus mit dem Plural Anklänge an den Gott Uranos vermeiden.
Oder klarmachen: Bildet euch nicht ein, den Himmel zu kennen. Es gibt viele davon! Und es fühlt sich gut an, ein Gebet in die endlosen kosmischen Geheimnisse zu senden.

Name

Ich habe Theologie studiert, aber »Geheiligt werde dein Name« nie wirklich verstanden. Doch dann habe ich mich in diesen Satz förmlich hineingewühlt – und fand die Erklärung: Mit der zweiten Zeile will Jesus die erste Zeile löschen. Dort verwendet er für den Gott der Juden, dessen Name (»Ich bin, der ich bin«) nicht ausgesprochen werden durfte, ein vertrautes, liebevolles Wort: Vater.

Doch direkt danach stellt er klar: Jeder Name für Gott ist heilig. Menschen haben nicht das Recht, ihn zu benennen. Das Göttliche bleibt unbenennbar, unfassbar, unverneinbar. Sogar die Frage, ob es Gott »gibt«, ist unangemessen. Existenz, wie wir sie Dingen und Personen zusprechen, ist für das Göttliche unpassend.
Dietrich Bonhoeffer brachte diese Einsicht in einer schönen Paradoxie auf den Punkt: »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.«

Vor ein paar Jahren erlebte ich eine Art Shitstorm, weil ich in einer Predigt gemeint hatte, dass Gott kein Vater ist. Auch keine Mutter. Dass das alles nur Bilder sind, Hilfsmittel, Krücken. Ich kenne Menschen, die daran zerbrochen sind, Gott als Vater ansprechen zu müssen – weil ihr eigener Vater für sie ein Horror und diese Gottesvorstellung damit für sie vergiftet war. Der Satz »Geheiligt werde dein Name« dagegen ist ein guter Gottesname.

Reich

Zur Zeit Jesu waren Kaiser, Könige, Stammesfürsten und Häuptlinge die übliche Form staatlicher Organisation: Jeder hatte sein Reich, und wer darin lebte, war Untertan, basta.

In Griechenland gab es eine Urform der Demokratie, die aus ein paar privilegierten Männern bestand. Wenn Jesus nun von einem »kommenden Reich« spricht, höre ich darin »Entwicklung«: Wie ihr regiert werdet, wird sich ständig verändern. Ich kann mir die »Herrschaft Gottes« nicht vorstellen als Rückkehr zu einer archaischen Superdiktatur, sondern eher als stark verbesserte Form unserer demokratischen Regierungen.

Wille

Hier geht es nicht um persönliche Alltagsfragen à la »Gott will nicht, dass du Alkohol trinkst«, sondern um etwas Großes: ein Wille, der sich »wie im Himmel, so auf Erden « ereignet. Wille als Weltprinzip, das der Schöpfung zugrunde liegt.

Der aus dem Allgäu stammende berühmte Biologe Ernst Mayr schrieb (als er 96 Jahre alt war!) das Buch »Das ist Evolution«. An zahllosen Beispielen stellt er begeistert dar, dass wir in einer sich wandelnden Welt leben. Es ist kein Wandel aus Langeweile oder als Selbstzweck, sondern alles wandelt sich, um besser zu werden, langlebiger, zukunftssicher. Ein Wille zu Entwicklung, Wachstum, eben: Evolution. »Dein Wille geschehe« ist für mich ein Satz tiefster Dankbarkeit: Dass ich Mensch hier auf der Erde lebe, verdanke ich diesem universalen Willen.

Brot

Was normalerweise mit »täglich« übersetzt wird, ist das einzige Adjektiv im Vaterunser. Dieses griechische Wort »epiouseon« wird ein Geheimnis bleiben, denn es kommt in der gesamten griechischen Literatur nur hier vor. Es kann alles Mögliche heißen, meinen die Sprachwissenschaftler, vielleicht »notwendig«, aber wohl nicht »täglich«. Doch der schöne Begriff vom täglichen Brot steckt ja bereits in der Bitte, dass wir es »heute« bekommen.

Schuld

Dass direkt nach dem Essen die Schuld kommt, hat mich schon als kleiner Junge gewundert. Inzwischen bin ich darauf gestoßen, dass Jesus (genau übersetzt) bittet: »Vergib uns unsere Schulden.« Jesus erzählt etliche Gleichnisse, in denen es um Geld geht, meist in Form von Schulden.

Dazu muss man wissen, dass schon vor der Erfindung von Geld beispielsweise ein Bauer das nötige Werkzeug für den Ackerbau bei seinem Nachbarn leihen konnte – wenn er versprach, ihm für diese Leistung später von der Ernte abzugeben. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, ist er – davon bin ich überzeugt – nicht im moralischen Sinne »schuldig«. Aber er hat »Schulden« bei den Menschen, die seine Ernährung und Betreuung viel Zeit und Geld kosten werden.

Der große Kreditvertrag des Lebens lautet: Man »zahlt« diese Schulden zurück, indem man selbst Kinder bekommt oder anderweitig am großen Projekt Menschheit mitarbeitet. Das gilt auch global: Die Menschen haben Schulden bei Gott, oder dem, der auch immer ihnen diesen Planeten als Lebensgrundlage zur Verfügung gestellt hat – die Natur, das Lebensprinzip Gaia.

Wieder gilt eine Art universaler Kreditvertrag: Wir zahlen diese Schulden ab, indem wir die Lebensgrundlage erhalten oder notfalls reparieren. Ich finde den Unterschied zwischen »schuldig sein« und »Schulden haben« gerade in der aktuellen Klimadebatte wichtig. Die Menschheit wird nicht von Gott oder Gaia vor ein Gericht gestellt und wegen ihrer unverzeihlichen Schuld zum kollektiven Untergang verurteilt.

Nein, so ein Gottesbild hat Jesus nie vertreten, und es ist schrecklich, wie es heute in nichtreligiösen Weltuntergangsfantasien wiederaufersteht. Ich höre in der Bitte »Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« einen klugen Trost: Ihr braucht euch nicht die Keule moralischer Anklagen um die Ohren zu hauen, denn Gott tut das auch nicht. Zahlt pragmatisch eure Schulden gegenüber dem Planeten ab. Tut etwas, werdet aktiv. »Gott hat kein Gefallen am Opfer, sondern an der Liebe« heißt es schon beim Propheten Hosea.

Versuchung

Noch ein mysteriöser Satz! Papst Franziskus hat schon vor Jahren eine Diskussion über diesen Satz angestoßen, aber wirklich geändert wurde er bisher nicht. Angenommen, dass es Jesus selbst auch für undenkbar hielt, dass Gott Menschen absichtlich verführt – dann könnte er diese Bitte durchaus ironisch gemeint haben: Lass uns nicht so tun, als wäre es Gottes Schuld gewesen, wenn wir Böses getan haben. Wie auch immer – umso inbrünstiger kann ich zu allem, was ich an Weltgeschehen erfahre, die letzte Bitte sprechen, oder seufzen: »Erlöse uns von dem Bösen!«

Kraft

»Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.« Auch wenn diese Worte in den ältesten Handschriften noch nicht stehen: Was für ein Finale! Das Vaterunser ist eine Powermeditation, ein energetischer Schatz im kollektiven Bewusstsein, weit über die Grenzen der Christenheit hinaus. Als meine Mutter wenige Wochen vor ihrem Tod in einem Klinikbett lag, hatte sie eine Zimmergenossin, die (wie sie sagte) nicht an Gott glauben konnte. Als ich bei einem Besuch zum Abschied mit meiner Mutter das Vaterunser gebetet hatte, lag diese Frau weinend in ihrem Bett und flüsterte mir zu: »Danke.«

Der Autor ist Theologe, bekannt als Karikaturist, Buchautor und Rundfunkprediger. 

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