Gegendenkmal zur Schmähplastik in Zerbst
„Der Botschaft des Hasses entgegenwirken“

Der Künstler Hans-Joachim Prager in der Kirche St. Trinitatis Zerbst mit einem Modell in Originalgröße des von ihm entworfenen Gegendenkmals zur Schmähskulptur der „Judensau“ an der Kirchenruine St. Nicolai. 
 | Foto: Killyen / Ev. Landeskirche Anhalts
  • Der Künstler Hans-Joachim Prager in der Kirche St. Trinitatis Zerbst mit einem Modell in Originalgröße des von ihm entworfenen Gegendenkmals zur Schmähskulptur der „Judensau“ an der Kirchenruine St. Nicolai.
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In Zerbst ist am heutigen Dienstag das Modell für ein Gegendenkmal zur Schmähplastik der „Judensau“ an der Kirchenruine St. Nicolai vorgestellt worden. Mit der Stele von Hans-Joachim Prager, einem Künstler aus Wernau in Baden-Württemberg, setzt die Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis der judenfeindlichen Hassbotschaft der mittelalterlichen Plastik eine Botschaft der Toleranz und der Versöhnung entgegen. Das Relief befindet sich seit 1450 an einem Strebepfeiler der Zerbster Kirche St. Nicolai. Im Zweiten Weltkrieg wurde St. Nicolai schwer beschädigt und ist heute eine gesicherte Ruine mit offenem Kirchenschiff.

„Die Schmähplastik an St. Nicolai ist ein nicht tolerierbares Zeugnis des Hasses gegenüber jüdischen Frauen und Männern, das wir nicht weiter unwidersprochen stehen lassen wollen“, sagte Mario Gabler, Vorsitzender des Gemeindekirchenrates der Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis, bei der Präsentation des Modells zum Gegendenkmal in der Kirche St. Trinitatis. Deshalb habe sich die Gemeinde dafür entschieden, eine erklärende und kommentierende Tafel unter der Schmähplastik anzubringen sowie einen Wettbewerb für ein Gegendenkmal auszuschreiben, das in unmittelbarer Nähe des Schmähreliefs errichtet werden soll.

Gemeindepfarrer Lutz-Michael Sylvester hob hervor: „Die Kirchengemeinde hat sich entschieden, nicht in eine Diskussion über die mögliche Entfernung der Schmähplastik einzutreten. Diese gehört mit ihrer menschenverachtenden Aussage zu unserem historischen Erbe, dem wir uns stellen müssen, zur mahnenden Erinnerung.“ Claus-Jürgen Dietrich, Vorsitzender des Förderkreises St. Nicolai, sagte: „Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur ‚Wittenberger Sau‘ gibt uns die Möglichkeit, die Schmähplastik hängen zu lassen und uns offensiv mit dem judenfeindlichen Inhalt auseinanderzusetzen.“

Der Zerbster Bürgermeister Andreas Dittmann betonte: „Die Erinnerung an das jüdische Leben in Zerbst ist seit vielen Jahren integraler Teil der Erinnerungskultur in unserer Stadt. Das von der Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis in Auftrag gegebene Gegendenkmal von Hans-Joachim Prager ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des von Kirche und Stadtgesellschaft verantworteten Unrechts gegenüber jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Zerbst. Ich bin dankbar für diese Initiative.“

Die Stele mit dem Titel „Reflexion“ von Hans-Joachim Prager wurde unter zehn Wettbewerbsbeiträgen von einer Jury ausgewählt (Details s. unten). Das Kunstwerk ist als Lesepult gestaltet und nimmt damit auf das Lesepult in jüdischen Synagogen Bezug. Der 1952 in Dessau geborene Künstler sagt dazu: „Mein Exponat soll dazu beitragen, dass der dafür vorgesehene Platz zu einem Ort der Begegnung und Verständigung wird. Eine entscheidende Rolle spielte für mich bei der Gestaltung des Mahnmals die Überlegung, dass jeder Mensch, ungeachtet seiner Weltanschauung und Religion, an dieser Stelle spürt, er ist in seiner Individualität angenommen und kann sich selbst zum historischen und künftigen Geschehen in Beziehung setzen. Von dieser Erkenntnis ausgehend, wäre es erstrebenswert, im „Wir“ eine gemeinsame Basis zu finden - eine Basis, auf der wir die Welt ein bisschen menschlicher machen können.“

Die 125 Zentimeter hohe Stele „Reflexion“ hat einen Umfang von 60 x 60 Zentimetern. Sie besteht aus zwei Teilen, einem 50 Zentimeter hohen Granitsockel und einer aufgesetzten, 75 Zentimeter hohen Bronzehaube. Auf der Deckplatte sind die Worte zu lesen: „Wir – die wir hier stehen / Wir sind / Wir denken / Wir wirken / zusammen wir gehen.“ An der Stirnseite der Stele mahnt das Wort „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ aus dem 1. Artikel des Grundgesetzes zu einem würdevollen Umgang mit allen Mitmenschen. Darunter werden die Namen der jüdischen Familien in Zerbst aufgeführt, die Opfer des Nationalsozialismus wurden und Stolpersteine in Zerbst erhalten haben. Auf dem Granitsockel des Mahnmals setzt der Satz „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ aus dem ersten Buch Mose die biblische Grundlage: Die Erzählung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen fixiert die unveräußerliche Würde des Menschen.

Arbeit der Jury
Die Jury zur Auswahl des Gegendenkmals bestand aus den Mitgliedern des Gemeindekirchenrates der Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis Zerbst sowie aus dem früheren Zerbster Kreisoberpfarrer, Oberkirchenrat i. R. Dietrich Franke, weiterhin aus einer Vertreterin des Stadtmuseums Zerbst, einem Vertreter des Förderkreises St. Nicolai und einem Vertreter der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Entschieden wurde in zwei Auswahlrunden unter zehn Wettbewerbsbeiträgen. Das Preisgeld für den Siegerentwurf liegt bei 1.000 Euro, für die Entwürfe auf Platz 2 und 3 werden je 500 EUR ausgereicht.

Künstler
Informationen zu Hans-Joachim Prager 

Umsetzung
Das Gegendenkmal „Reflexion“ soll in den nächsten Monaten hergestellt und im Frühjahr 2023 am vorgesehenen Standort im kurzen Abstand von 2,5 Metern zum Strebepfeiler errichtet werden, an dem sich die Schmähskulptur befindet.

Geschichtlicher Hintergrund
1324 werden Juden erstmalig im Zerbster Schöffenbuch erwähnt. Ihre Wohnquartiere sind bis heute in den Straßennamen Jüdenstraße und Silberstraße nachweisbar. Um 1450 wurde in diesen Strebepfeiler der Kirche St. Nicolai Kirche das Relief einer sogenannten „Judensau“ eingearbeitet. Aus dieser Zeit findet man in zahlreichen Städten vergleichbare Schmähskulpturen. Zu sehen sind hier ein Schwein und Menschen (durch ihre spitzen Hüte als Juden zu erkennen), die u. a. an den Zitzen der Sau trinken. Es handelt sich um eine Verhöhnung, Ausgrenzung und Demütigung der jüdischen Menschen, für die das Schwein als unrein gilt. Der Zweck der Darstellung ist nicht abschließend geklärt: Sie konnte bedeuten, dass Juden keinen Handel auf den Markt treiben durften - oder dass Juden kein Wohnrecht in der Stadt hatten. Seit dem 15. Jahrhundert erscheint das Motiv der „Judensau“ als aggressive Karikatur und Schimpfwort. Nationalsozialisten griffen Bildmotiv und Schimpfwörter auf und verwendeten sie zur Hetze, Verleumdung und Bedrohung. Auch in Zerbst kam es zu gewalttätigen Übergriffen gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Am 9. November 1938 wurde die Synagoge geschändet. Ende 1942 war die jüdische Gemeinde in Zerbst vernichtet.

Autor:

Johannes Killyen

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