Sommerakademie: In Neudietendorf wird über eine gerechte und nachhaltige Wirtschaftsordnung nachgedacht
Gewinnbringende Nächstenliebe

Wirtschaft ist kein beliebtes Thema. Komplex, schwer zu verstehen und irgendwie ungerecht: Viele Menschen verspüren ein Unbehagen, wenn es um ökonomische Fragestellungen geht. Zwar ist den meisten das Haushalten mit den eigenen finanziellen Mitteln geläufig. Aber die Wirtschaft insgesamt erscheint als Black Box, ihre Regeln als undurchdringbares Dickicht.
Ob Finanzmarkt, Steueroasen oder Welthandel: Das Gefühl der Ohnmacht ist vielfach groß. Dazu kommt, dass ökonomische Argumente in der politischen Debatte omnipräsent sind und übermächtig wirken. Und unverständlich: Warum werden Banken mit Milliarden gerettet, während eine anständige Rente unerreichbar wirkt? Und die Bundeskanzlerin erklärt mit der Rede von der marktgerechten Demokratie den Bankrott der Politik.
Sollte die Wirtschaft nicht eigentlich im Dienst der Gesellschaft wirken? Stattdessen erleben wir eine tiefgreifende Finanz- und Schuldenkrise, ungebremste Umweltzerstörung und das Auseinanderdriften von Einkommen und Lebenschancen.
Die Ungerechtigkeit, die ausschließlich am Gewinn orientiertes wirtschaftliches Handeln oftmals mit sich brachte, wurde immer schon thematisiert. In der Bibel ist daher die Unterstützung von Armen und Kranken besonders hoch angesehen. Tätige Nächstenliebe ist im Sinne der diakonia (griech. Dienst, eine der drei Grundvollzüge der Kirche) für Christen die höchste Tugend. Doch reicht es aus, die Wunden derer zu verbinden, die im Wirtschaftssystem unter die Räder kommen? Muss nicht dem Rad selbst in die Speichen gegriffen werden?
Der tätige Einsatz für die Mühseligen und Beladenen ist unentbehrlich und Zeichen der Nachfolge Christi. Genauso wichtig ist jedoch der Einsatz für die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, die zu Armut, Ausgrenzung und Zerstörung führen. Dafür ist die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Ideen und Strukturen der Wirtschaft unerlässlich. Die Wirtschaftslehre in Schule und Studium reicht dafür nicht aus: Hat doch die vorherrschende Lehre es nicht geschafft, die Wirtschaftspolitik so zu formen, dass das Unbehagen aufgelöst und Chancengleichheit hergestellt wird.
Es gibt Bewegungen, die auf der Suche nach einem anderen Wirtschaftsverständnis sind, außerhalb wie innerhalb der Kirche – so zum Beispiel mit dem ökumenischen Prozess „Umkehr zum Leben“ oder der christlichen Initiative „anders wachsen“. Denn sie wollen nicht stehenbleiben beim Verweis auf die Gerechtigkeit Gottes, wenn am jüngsten Tag alle Tränen abgewischt werden. Sie wollen in der Nachfolge Jesu ganz konkret die Lebensbedingungen im Diesseits verbessern.
So eröffnet auch die Evangelische Akademie Thüringen mit der internationalen Sommerakademie für Plurale Ökonomik einen Raum, um Wirtschaft neu zu denken. Zum dritten Mal folgen rund 100 junge Leute, zumeist Studierende, im August dem Ruf nach Neudietendorf und befassen sich mit ökonomischen Denkschulen, die an den Universitäten kaum gelehrt werden. Sie eint das Interesse an einer Wirtschaftsordnung, mit der globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit heute schon verwirklicht werden können. Sie denken über die Rahmenbedingungen nach, die gutes Leben für alle möglich machen können. Sie diskutieren mit Aktivisten, Politikern und Wissenschaftlern und bauen ein länderübergreifendes Netzwerk auf. Aus dem Verständnis der Lebenssituation in anderen Ländern kann Vertrauen wachsen, um die großen Fragen der Menschheit gemeinsam zu lösen.
Es ist wichtig, dass die evangelische Kirche solche Formen politischer Bildung gestaltet. Denn nur so kann sie Diskurse mitprägen, dialogfähig bleiben und die eigenen Erfahrungen aus der Partnerschaftsarbeit einspeisen. Wer sprachlos wird, wo es um die praktische Gestaltung von globaler Gerechtigkeit geht, verspielt Einfluss und Glaubwürdigkeit.
Holger Lemme

Der Autor ist Studienleiter für Arbeit und Wirtschaft an der Evang. Akademie Thüringen in Neudietendorf. 

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Online-Redaktion

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