Rezension
Dem Vergessen entrissen

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Vor wenigen Jahren hat Karl-Peter Krauss ein Buch zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK) in der NS-Zeit veröffentlicht.
Von Andreas Fincke
Damit konnte er eine große Forschungslücke schließen, weil es seinerzeit kaum überzeugende Darstellungen zur Geschichte der NAK im Nationalsozialismus gab.
Dieser Mangel war auch dem Umstand geschuldet, dass die NAK bis vor wenigen Jahren eine weitgehend verschlossene Gesellschaft war und Außenstehenden kaum Einblick in ihre Archive gewährt hat – wenn denn überhaupt Unterlagen gesammelt wurden.
Mit Karl-Peter Krauss hat sich das nun erfreulicherweise geändert, wobei ihm sicherlich der NAK-Reformprozess seit den 1990er-Jahren und der Umstand, dass er selbst Mitglied dieser Freikirche ist, die Dinge erleichtert haben.
Im Zuge seiner damaligen Recherchen wurde er auf das Schicksal neuapostolischer Christen jüdischer Abstammung aufmerksam. Er dokumentierte erste Erkenntnisse zur bedrückenden Geschichte eines Simon Leinmann, der ein neuapostolischer Christ war, jedoch eine jüdische Mutter hatte. Nach den NS-Rassengesetzen galt er damit als Jude. Sein Leidensweg begann im Oktober 1938, als er wegen seiner polnischen Staatsbürgerschaft nach Polen deportiert wurde.
Seine „arische“ Frau wurde zur Scheidung gezwungen. In verzweifelten Briefen wandte er sich an seine neuapostolischen Gemeindeleiter; er erhielt keine Antwort. Weil sich die Spuren von Leinmann in einem der vielen NS-Todeslager verloren, schrieb Krauss seinerzeit: Nichts spricht dafür, dass der gläubige neuapostolische Christ Simon Leinmann diese Zeit des Grauens überlebt haben könnte.
Und doch ließ Krauss das Schicksal seines Glaubensbruders nicht los. Er durchforschte zahlreiche Archive und gab die Hoffnung nicht auf. Schließlich fand er in einem New Yorker Archiv einen ersten Hinweis darauf, dass Leinmann den Krieg und die Vernichtungslager überlebt hatte.
Verarmt, mittellos und schwer gezeichnet stellte Leinmann im Frühjahr 1949 einen Antrag auf Verleihung der US-Staatsbürgerschaft. Aus diesen Dokumenten konnte Krauss das Leben bzw. Leiden Simon Leinmanns in den NS-Lagern rekonstruieren. Über seine Recherchen schrieb Krauss nun das Buch „Dem Vergessen entrissen. Der ›Ostjude‹ Simon Leinmann und die Neuapostolische Kirche.“
Es ist beeindruckend, welche Fülle an Zeugnissen Krauss gefunden hat.Mich fasziniert an dem Buch, dass ein Autor sich jahrelang mit einer ihm persönlich unbekannten Person beschäftigt, um diese dem Vergessen zu entreißen und ihrem Leiden Erinnerung zu geben. Zudem hätte ich nie erwartet, dass man derart viele Informationen in versteckten Archiven entdecken kann.
Krauss, Karl-Peter: Dem Vergessen entrissen. Der „Ostjude“ Simon Leinmann und die Neuapostolische Kirche, 320 S., ISBN 978-3-412-53188-1, 35,00 Euro
Autor:Online-Redaktion |
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