die Trans-Firmation Gottes
„CANIS DEUS“

Vom Tier als Ersatzgott in den nachgöttlichen Gesellschaften des industriellen Mitteleuropas - Eine kulturanalytische Betrachtung

I. Präludium: Eine Spaziergangsnotiz
Wenn man in den öffentlichen Parks, Promenaden und urbanen Schneisen der spätmodernen Städte Mitteleuropas seinen Blick schärft – nicht wie ein Polizist, sondern wie ein alter humanistisch gebildeter Spaziergänger, dessen Augen von Lektüre durchtränkt sind –, so fällt ein eigenartige Phänomen auf, welches gewiss nicht neu ist, doch in seiner gegenwärtigen Massivität soweohl soziologisches Ungetüm als auch theologisches Dokument zu sein scheint. Es handelt sich um „Menschen mit Tieren”. Nicht in zoologischer, sondern in kultischer Konstellation.

Das Tier, einstmals Nutzding, Werkzeug, Leberproduzent, Fremdbissverhinderer und Schädlingsvertilger, ist zum Symbol, zur Ikone geworden. Dieses Tier ist das neue Heilige, und zwar nicht im Sinne eines kirchlich erleuchteten Heiligen, sondern im ursprünglichen Sinne des tremendum et fascinosum – als etwas, das zugleich anzieht und diszipliniert. Wie Gott.

II. Der neue Bund
Die Theologen, soweit sie noch nicht in Genderseminaren ertrunken oder sich in hermeneutischen Spinnennetzen verfangen haben, wissen, was ein Bund ist: eine Verbindung, die den Menschen mit dem Höchsten verklammert, durch Zeichen, Pflichten, Rituale.
In vormodernen Zeiten hießen die Zeichen solcher Bundestreue: Beschneidung, Kreuz und Sonntagspflicht. In den industrialisierten Staaten Mitteleuropas jedoch – wir wollen ihr Gebiet hier einmal, um niemandem zu nahe zu treten, Kaltglaubien nennen – haben sich die Zeichen verschoben. Sie sind pelzig geworden.

Die alte Vertikale ist gekappt, aber die Sehnsucht nach ihr bleibt. Und weil die Transzendenz, wie Heidegger ahnte, nicht verschwindet, sondern nur andere Kostüme anzieht, nimmt sie nun tierische Gestalt an. Zuerst zu nennen wäre der Hund als Träger des Herabgegöttlichten.
Er bellt nicht nur wie wie ein Prophet, er schnüffelt. Dieses sein Schnüffeln ist wie das Alarmsystem einer verlorenen Seele: Der Hund warnt vor Einsamkeit, fordert Spaziergang, sorgt für Gemeinschaft mit anderen Bepfoteten. Das Tier ist zugleich Pfleger, Spiegel, und – und das ist entscheidend – Priester einer unsichtbaren Liturgie, die sich in Kotbeuteln, Leckerli-Ritualen und dem wöchentlichen Shampoo manifestiert.

III. Homo et canis – eine Konvergenzgestalt
Es fällt auf, und zwar nicht nur auf einschlägigen Webseiten oder Instagram-Kanälen, sondern sogar in der Fleisch-und-Blut-Wirklichkeit städtischer Beobachtung: Hund und Halter sehen sich ähnlich. Nicht nur im Gesicht, sondern im Gang, im Rhythmus der Präsenz, in jener schwer beschreibbaren Aura des Wir-Gehören-Eiander-An. Man könnte es den „Haustier-Kontinuumseffekt“ nennen: je länger die Verbindung, desto homogener das Erscheinungsbild. Erklärt man dies mit Empathie? Mit Dopamin? Oder mit Mythos?

Die alten Griechen wussten, dass der Hund ein Seelenwesen ist. Cerberus, der Wächter der Unterwelt, ist kein Höllenhund, sondern ein psychagogischer Dienstleister – er entscheidet, wer durchkommt und wer nicht. Im Christentum wird Christus zum Hirten, seine Herde folgt ihm. Und so, in einer paradoxen Umkehrung, wird nun der Mensch zum Gefolgstier seines Hundes, folgt ihm an der Leine, dreht Kreise um die Hundewiese wie um ein metaphysisches Zentrum. Was ist das anderes als eine ins Animalische gewendete Theophanie?

IV. Das Tier als Transzendenzrest
Der Begriff der Transzendenz – so oft missbraucht – meint hier nicht das metaphysische Irgendwo, sondern den anthropologischen Grundimpuls, nicht allein zu sein im Blicken nach Ganz-Anderem. Gott lag lange inRichtung dieses Blickens. Er richtete sich aus irgendeiner Höhe auf den Menschen herab, prüfend, liebend, strafend, segnend. Dieser Blick ist vielen abhanden gekommen.
Aber der Hund blickt. Und zwar nicht digital, nicht kalt, nicht wie ein Algorithmus oder ein Amtsschimmel, sondern warm, leicht feucht, aus unergründlicher Pupillentiefe. Sein Blick ruht auf seinem Menschen wie einst der Allblick Gottes auf dem Gerechten.

Dies ist etwa kein Zufall. Es ist der Kompensationsmechanismus des spätglaubenden Menschen: Statt göttlicher Instanz hat er nun eine vierbeinige Semi-Transzendenz, eine artifizielle Theophanie in Fellform. Sie riecht nicht nach Weihrauch, sondern nach nassem Gras. Aber sie erfüllt dieselbe Funktion.

V. Ökonomie der Nähe
Dass Pferde und Boa Constrictores in dieses System ebenfalls integriert sind, ist keine Überraschung. Denn Transzendenz lässt sich staffeln. Das Pferd ist die aristokratische Höchst-Gottheit, teuer, distanziert, opulent. Es verlangt Stall, Reitplatz, Helm, Versicherungen, Präsenz. Das Ross ist Gott-Vater am Hippodrom. Der Papagei ist der Götterbote, Merkur mit Federn, viel Farbe, wenig Seele - was für ältliche Künstlerinnen.
Die Schlange – ein Orakel. Doch nur der Hund – und das ist der entscheidende Punkt – will mitgehen.

Hier liegt das soziale Moment der neuen Tier-Religion: Sie ist nicht elitär, sie ist demokratisch. Selbst der Hartz-IV-Empfänger, die Obdachlose unter der Brücke hat einen Hund. Das Tier ersetzt aber nicht nur Gott – es ersetzt auch Würde. Der Besitz eines Hundes ist das letzte soziale Sakrament in einer Welt, die alle anderen abgeschafft hat.

VI. Die Katze: ein Gott, der nie wegging
Wenn der Hund der neue Gott ist, so ist die Katze der alte. Die Katze verlangt nicht, sie duldet. Sie gehorcht nicht, sie gewährt. In ihr erscheint die Transzendenz nicht als Bindung, sondern als Distanz mit gelegentlicher Huldigung.
Die alten Ägypter wussten das. Die katzenhafte Göttin Bastet war keine Laune, sondern eine Erkenntnis: Der Gott ist nicht dort, wo du ihn suchst, sondern dort, wo er liegt. Und manchmal schläft er. In Mitteleuropa hat sich dieses Bild gehalten, jedoch säkularisiert:
Die Katze ist das Tier des postmodernen Menschen, der Nähe will, aber keine Verantwortung. Man kann Katzen füttern, aber nicht leiten. Sie repräsentieren den Gott im Ruhestand, ein Rest der Hoheit, müde vom Weltlauf.

EXKURS von Tierbestattungen und letzten Sakramenten
In früheren Jahrhunderten wurde der Mensch auf Kirchhöfen beerdigt, unter segnender Glocke, in geweihter Erde. Heute werden Tiere feierlich verbrannt, in Urnen gefüllt, mit Pfotenabdruck auf Samt gebettet. Mancher Hund erhält eine würdigere Zeremonie als sein Halter.
Was bedeutet das? Es bedeutet: Das Tier ist Träger des Letzten. Es ist nicht nur Freund, sondern auch Todgeselle. Es stirbt – und der Mensch lernt am Tier, was Verlassenheit bedeutet. Die Tierbestattung ist kein Kitsch, sondern eine neue Form der Eschatologie: Nicht Auferstehung der Toten, sondern Weiterbestehen der Beziehung im Bild, im Geruch des alten Halsbands, im unsichtbaren Tapsen auf dem Laminat.

Man beobachte einmal das Gesicht einer Frau mittleren Alters, wenn der Tierarzt ihr sagt, der Tumor ihres Hundes sei inoperabel. Es ist nicht medizinische Information, die hier vermittelt wird. Es ist eine theologische Diagnose: Dein Gott stirbt. Deine Verbindung zum Sein wird abbrechen. Du wirst allein sein. Der Tierarzt ist Seelsorger. Seine Praxis ist Kapelle. Seine Nadel ist Sakrament. Er tötet nicht – er erlöst. Und am Ende, wenn das Tier in seinen Armen stirbt, ist der Mensch still – wie früher vor dem Tabernakel.

Und ist der Fressnapf nicht vasa sacra nova? Hat das nicht alles mit Eucharistie zu tun? Wir sprechen nicht gern davon, aber es ist so: Das Füttern des Tieres ist ein Ritual. Nicht nur, weil es regelmäßig geschieht, sondern weil es Bindung herstellt: Du gibst – das Tier empfängt – es schaut dich an – du bist bestätigt. Es ist die Eucharistie der Gottlosen. Nicht „das ist mein Leib“, sondern: Das ist dein Futter – von mir. Und so wird selbst der entsprechende Bezirk des Supermarkts mit seinen einschlägigen Regalen zur Sakristei, das Nassfutter zur heiligen Gabe. Man belächelt das? Man sollte es einmal erleben …

VII.Die Eschatologie des Hundeblicks
Was bedeutet das alles? Es bedeutet: Der Mensch kann nicht ohne Spiegel seiner Bedürftigkeit leben. Der Hund, die Katze, der Papagei – sie spiegeln ihn nicht wie ein Mensch es täte, sondern existenziell gereinigt: ohne Sprache, ohne Urteil, nur mit Augen, Wärme, Präsenz.

Sie sind Avatare des letzten Blicks, jener Blick, der einst Gott gehörte – dann den Priestern, dann den Geliebten – und nun den Tieren. Wenn ein Hund stirbt, geht der letzte stumme Zeuge. Deshalb weinen Menschen über Tiere, denen Götter nie eine Zunge für Worte gaben – weil die Tiere alles wussten, ohne je gefragt zu haben.
Wir können es nicht vergessen: Der Hund stirbt. Und wenn er stirbt, stirbt etwas im Halter. Hier öffnet sich der letzte theologisch bedeutsame Moment der Tierbindung. Die Trauer um den Hund ist oft intensiver als die um Verwandte. Warum? Weil der Hund nicht nur ein Gefährte war – er war die letzte Verkörperung des göttlichen Blicks. Wenn er stirbt, bleibt nur der leere Spiegel ohne echtes Gegenüber. Ein neuer Hund muss her. Ein anderer Gott.
Die Reinkarnation des Geborgenseins. Schopenhauer nannte die Reihe seiner im Laufe der aufeinanderfolgenden Jahre Pudel - Atman. Die Weltssele.

VIII. Zum guten Schluss
Was bleibt? Vielleicht dies: Der Hund ist kein Gott, aber er ist das, was bleibt, wenn Gott gegangen ist. Er ist die herabgesetzte Gestalt der Transzendenz, sozialverträglich, fellbedeckt, stumm-beredt. Und weil der Mensch nicht anders kann, als zu glauben – glaubt er nun an das Tier.
Vielleicht, so dürfen wir schließen, hat die Religion gar nicht aufgehört. Vielleicht ist sie nur fellig geworden, stumm, vierbeinig. Vielleicht ist der Mensch nicht gottlos, sondern nur hundfromm geworden. Ein Wesen, das glaubt – aber nicht mehr nach oben. Sondern nach unten, wo es wärmt. Und vielleicht wird einst ein neuer Prophet kommen, der nicht vom Sinai herabsteigt mit harten Gesetzestafeln, sondern von der Hundewiese herüber schreitet. Mit Leckerlies …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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