Barockpoesie aus dem Mittelalter
„O Haupt voll Blut und Wunden“

Der Kirchenlieder-Dichter Paul Gerhardt (1607 - 1676) | Foto:  epd-bild / Keystone
  • Der Kirchenlieder-Dichter Paul Gerhardt (1607 - 1676)
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Der Text des Passions-Chorals »O Haupt voll Blut und Wunden« gehört zu den erschütterndsten Bildern, die der evangelische Pfarrer und Lieddichter Paul Gerhardt (1607–1676) geschaffen hat.

Von Christian Feldmann

Doch das Lied hat bereits mittelalterliche Wurzeln. Begründet liegen sie in dem Hymnus »Salve caput cruentatum«: »Sei gegrüßt,/ blutüberströmtes Haupt,/ ganz mit Dornen gekrönt,/ entstellt, verwundet (…)«. Die Zeilen gehen zurück auf den Zisterzienserabt Arnulf von Löwen, der um 1250 starb.

Dietrich Buxtehude schuf aus diesem Gebets-Hymnus einen siebenteiligen Zyklus von Passionskantaten, dessen letztes Stück das »Salve caput cruentatum« war, was sich wiederum Paul Gerhardt zur Vorlage für seinen Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« nahm.

Den Choral schließlich verwendete Johann Sebastian Bach in seiner Matthäus-Passion: »O Haupt voll Blut und Wunden,/ voll Schmerz und voller Hohn,/ o Haupt, zum Spott gebunden/ mit einer Dornenkron,/ (…) Du edles Angesichte,/ davor sonst schrickt und scheut/ das große Weltgewichte:/ Wie bist du so bespeit?«.

Der Mainzer Liturgiewissenschaftler Ansgar Franz sieht in Paul Gerhardts geschickter Kontrastsetzung von tiefster Leiderfahrung und Göttlichkeit das »Paradox der Inkarnation« abgebildet: Das schöne, liebreiche Antlitz Christi, das Gesicht, in dem Gott menschliche Gestalt angenommen hat, ist zu einer erbarmungswürdigen Karikatur geworden, und der Betrachter kann nur noch verstört und hilflos fragen: »Wie bist du so erbleichet?/ Wer hat dein Augenlicht,/ dem sonst kein Licht nicht gleichet,/ so schändlich zugericht’?«.


"Paul Gerhardt macht den erschütterten Beter zum Handelnden: Ich will bei dir stehen, ich will das Kreuz nicht verlassen"

Vor dem Hintergrund der Gottesknechtlieder des Propheten Jesaja – »Er wurde verachtet (…), durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt« – begreift der verzweifelte Beter plötzlich, dass der zu Tode gefolterte Gottessohn für ihn ganz persönlich gelitten hat und gestorben ist. So heißt es: »Nun, was du Herr erduldet/ Ist alles meine Last:/ Ich hab es selbst verschuldet/ Was du getragen hast.«

Doch Erschütterung und Scham verwandeln sich in Dankbarkeit und das Versprechen entschlossener Treue – und sogar in Freude: »Ich will hier bei dir stehen,/ verachte mich doch nicht;/ von dir will ich nicht gehen,/ wenn dir dein Herze bricht;/ (…) Es dient zu meinen Freuden/ und tut mir herzlich wohl,/ wenn ich in deinem Leiden,/ mein Heil, mich finden soll.«

Kein hartes Gericht, keine Rache, kein Verstoßen des Sünders, sondern rettende Barmherzigkeit: Der um seine Schuld wissende Sünder, der liebende Betrachter begegnet auf Golgatha einem Sterbenden, der sein Gefährte geworden ist, der – in atemberaubender Umkehr der Perspektive – seine Nähe braucht.

Paul Gerhardt macht den erschütterten Beter zum Handelnden: Ich will bei dir stehen, ich will das Kreuz nicht verlassen, ich will den sterbenden Jesus »fassen in meinen Arm und Schoß«.

Und während er den Leichnam Jesu in seinen Armen birgt, auf seinen Knien, kommt ihm sein eigener Tod in den Blick, der ihm unausweichlich bevorsteht. Der Tod, den ein mittelalterlicher und auch noch barocker Mensch zweifellos mit mehr Angst erwartete als wir heute: Gericht, Kampf der Engel und Teufel um die arme Seele, Fegfeuer, Hölle, ewige Verdammnis. Dann soll der aus Liebe am Kreuz gestorbene Christus noch einmal als barmherziger Retter erscheinen. Paul Gerhardt: »Wenn ich einmal soll scheiden,/ so scheide nicht von mir!/ Wenn ich den Tod soll leiden,/ so tritt du dann herfür;/ wenn mir am allerbängsten/ wird um das Herze sein,/ so reiß mich aus den Ängsten/ kraft deiner Angst und Pein.// Erscheine mir zum Schilde,/ zum Trost in meinem Tod,/ und lass mich sehn dein Bilde/ in deiner Kreuzesnot./ Da will ich nach dir blicken,/ da will ich glaubensvoll/ dich fest an mein Herz drücken./ Wer so stirbt, der stirbt wohl.«

Das kraftvolle Bild vom »Herausreißen« verdankt Paul Gerhardt dem Psalm 91 (»Wer im Schutz des Höchsten wohnt«), in dem es heißt: »In der Bedrängnis bin ich bei ihm, ich reiße ihn heraus und bring ihn zu Ehren.« Worauf Gott den vertrauensvollen Beter allerdings noch »mit langem Leben sättigen« wird.

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