Obdachlosigkeit
«Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig den Krankenwagen rufen»

Essensausgabe in der "Teestube" des Diakonischen Werkes in Wiesbaden | Foto: epd-bild/Kristina Schäfer
  • Essensausgabe in der "Teestube" des Diakonischen Werkes in Wiesbaden
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Für obdachlose Menschen ist die kalte Jahreszeit besonders schwierig. In Hessen gibt es bereits verschiedene Hilfsangebote, auf Bundesebene hat die BAG Wohnungslosenhilfe gezielte Forderungen.

Von Christopher Hechler (epd) 

Während draußen eisiger Wind dicke Winterjacken und eng anliegende Schals nötig macht, herrscht in der Wiesbadener Teestube reges Treiben: «Wir haben ungefähr 90 Personen, die zum Mittagessen zu uns kommen», sagt Matthias Röhrig, Leiter der Einrichtung. Als «Anlaufstelle für wohnungslose und sozial ausgegrenzte Menschen» ist die tägliche kostenlose, warme Mahlzeit eines von vielen Angeboten der Teestube, die sich das ganze Jahr über um ihre Besucher kümmert. «Gerade jetzt im Winter ist der Aufenthaltsbereich das Wichtigste», betont Röhrig.

Neben der Grundversorgung - Toilette, Dusche, Waschmaschine - hilft die Einrichtung unter anderem mit einer Kleiderkammer und medizinischen Sprechstunden in Kooperation mit Zahn- und Allgemeinärzten. «Unsere Sozialarbeiter haben außerdem feste Anlaufstellen in der Stadt, und wir haben eine Notübernachtung mit zwölf Plätzen hier im Haus», erklärt Röhrig. Mittlerweile stehen zudem fünf «Minihäuschen» auf dem Gelände von Kirchengemeinden zur Verfügung. Wohnungslose Menschen können diese jeweils für sechs Monate nutzen und werden dabei «sozialarbeiterisch sehr intensiv betreut», sagt Röhrig.

In Wiesbaden gebe es für jeden Obdachlosen eine Möglichkeit, im Winter unterzukommen. Angebote wie das Männerwohnheim der Heilsarmee seien mit vollbesetzten Zimmern und ihren Regeln aber nicht für alle eine Option. «Viele halten die Nähe nicht aus», sagt Röhrig. Wie sehr sich die Bedingungen für wohnungslose Menschen zur kalten Jahreszeit noch weiter erschweren, wird durch die teils fröhliche Stimmung während des Mittagessens in der Teestube fast verdeckt, lässt sich aber erahnen.

Einer der Gäste, der 74-jährige Rentner Helmut, erzählt, dass er «dringend Lust auf eigene vier Wände» habe. Er lebt nach eigener Aussage abwechselnd in zwei Wohngemeinschaften und kommt seit drei Jahren zum Essen in die Teestube. Reyhan wiederum erzählt, sie sei erst vor Kurzem obdachlos geworden und komme nun zunächst in einem Hotel unter.

«Herbst und Winter sind natürlich eine besondere Herausforderung», sagt Werena Rosenke, die bis zum Jahreswechsel Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) in Berlin war.
Viele Menschen, die obdachlos auf der Straße lebten, seien gesundheitlich angeschlagen und häufig chronisch erkrankt. Die BAG fordert durchgehend geöffnete Notübernachtungsstellen, bei Bedarf die Anmietung von leer stehenden Hotels, Öffnungen von U-Bahn-Stationen, dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten für kleinere Gruppen von Wohnungslosen und die Einrichtung von Kältebussen.

In Frankfurt am Main ist ein solcher Kältebus im Einsatz. «Wir sind von Oktober bis Mai jede Nacht von 21 bis 5 Uhr unterwegs und versorgen Menschen mit Schlafsäcken, Decken, Isomatten, heißem Tee - oder fahren sie in eine geschützte Unterkunft», sagt Daniel Schneider, stellvertretender Leiter des Kältebusses. Die Aufgabe dieses Angebots sei «die Überlebenssicherung von obdachlos lebenden Menschen».

Vor allem Decken seien beliebt, sagt Schneider. Ein «harter Kern» von rund 80 Personen im Stadtgebiet bleibe auch bei widrigsten Umständen noch draußen.

Matthias Röhrig von der Wiesbadener Teestube kann viele Geschichten von schweren Schicksalen erzählen. «Aus dem näheren Kreis der Teestube sterben zwischen 15 und 20 Personen im Jahr - und das sind nur die, von denen wir wissen», sagt der Einrichtungsleiter. Immer im November wird bei einem Gottesdienst mit einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer an die Verstorbenen erinnert. «Das ist ein ganz wichtiges Symbol für unsere Besucher», sagt Röhrig. «Dass sie nicht vergessen sind.»

Sein Appell an Bürgerinnen und Bürger ist: «Wenn man jemanden hilflos irgendwo liegen sieht, sollte man die Person ansprechen. Und lieber einmal zu viel als einmal zu wenig den Krankenwagen rufen.»

Autor:

Katja Schmidtke

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