DDR-Kirchenverluste # 6
Die Matthäikirche – Leipzigs dreifacher Phoenix

Matthäikirche Leipzig um 1912 | Foto: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4197832
  • Matthäikirche Leipzig um 1912
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In der DDR wurden bis 1988 rund 60 Kirchen auf staatlichen Druck gesprengt. Die wohl bekannteste von ihnen war die Paulinerkirche Leipzig – auch Universitätskirche St. Pauli genannt – im Jahr 1968. Die Serie ruft verlorengegangene Sakralbauten in Mitteldeutschland und darüber hinaus in Erinnerung.

Phoenix ist laut mythologischer Überlieferung jener Vogel, der nach dem Tod erneuert aus seiner Asche aufersteht. Was hat der mit einer für Jahrhunderte stadtbildprägenden Kirche in Leipzigs Innenstadt zu tun?

Geschichte
Der Reihe nach: Die Matthäikirche zu Leipzig war eine Kirche in der Innenstadt am heutigen Matthäikirchhof 22/23, diesen Namen trug sie seit 1876. Es war bereits ihr vierter Name: Zuvor hieß sie Franziskanerkirche zum Heiligen Geist, Barfüßerkirche und – seit 1699 – Neue Kirche. Die Namen sind Hinweise auf ihre wechselvolle Geschichte.

Auf dem einstigen Gebiet der Burg Libzi, einer von drei Zwingburgen des Markgrafen Dietrich, wurde nach 1230 das Franziskanerkloster Zum Heiligen Geist gegründet, ein Barfüßerkloster. Ende des 13. und im 14. Jahrhundert wurde die einfache Saalkirche erweitert – mit Nordschiff, Propsteigebäude und Mönchschor.

Erster Phoenix
1488 begann die Neuerrichtung des Gotteshauses: Es entstand eine zweischiffige Hallenkirche mit Sterngewölbe. Fertigstellung war 1494 – Phoenix stieg erstmals aus der Asche.

Mit der Reformation kam 1539 die Aufhebung des Klosters, Kurfürst Moritz von Sachsen verkaufte Kloster und Kirche samt Grundstück der Stadt Leipzig. Die Klausur wurde Wohngebäude, ab 1552 diente das Kirchengebäude als profanes Lager für Leipzigs Kaufleute.

Zweiter Phoenix
Knapp 150 Jahre später, am 24. September 1699, erhob sich dieser Phoenix zum zweiten Mal: Leipzigs Bürgerschaft hatte sich stark gemacht, sie räumlich erweitert, barock umgestaltet und ihre Wiedereinweihung als „Neue Kirche“ erreicht. Den Altar dieser Diakonenkirche – einer Hilfskirche ohne eigenen Pfarrer – schuf Michael Hoppenhaupt, die Orgel Christoph Donat.

Zur Feier dieser Kirchen-Erneuerung wurde in Leipzig eine Denkmünze geprägt. Darauf jenes legendäre Federtier, das nach der Sage aus der eigenen Asche aufersteht – ein feinsinniger Vergleich der Münzgestalter: Ihr Phoenix sitzt auf einem brennenden Scheiterhäuflein, auch ist eine Kirche zu erkennen. Die Münze hat in Latein folgende Botschaft: „Verborgen war ich in der Asche – Aber daraus wieder erstehend – Strahle ich in neuem Licht – Das Gotteshaus ist erneuert, Leipzig 1699 den 24. September.“ 1703 folgte ihr neuer Dachreiter.

Johann Sebastian Bach war in seiner Zeit als Thomaskantor (1723–1750) auch für die Kirchenmusik in der Neuen Kirche zuständig. Dort sang Chor III der Thomasschule unter Leitung des dritten Präfekten, es erklangen einfachere Motetten und Choräle ohne selbstständige Instrumentalstimmen. An hohen Feiertagen und während der drei Messezeiten musizierte dort seit 1704 das von Georg Philipp Telemann gegründete Collegium musicum.

Während der Napoleonischen Kriege diente die Kirche wiederum profanen Zwecken – als Lager der preußischen Kriegsgefangenen (1806–1810) und als Lazarett (1813–1816).

Dritter Phoenix
Sechzig Jahre später folgte der dritte Aufstieg des Phoenix zu Leipzig: 1876 gründete sich die Matthäigemeinde, die Neukirche wurde nun zur Matthäikirche mit eigenem Pfarrer. 1879 und 1880 gab es große Umbauten im Stil der Neugotik von Oskar Mothes, gefolgt von Umgestaltungen zwischen 1892 und 1894 von Julius Zeißig.

Doch es drohte Gefahr: 1897 wandte sich die Leipziger Immobiliengesellschaft an die Stadt mit dem Vorhaben, alle Innenstadt-Altbauten westlich der Hainstraße abzureißen und neue Wohn- und Geschäftshäuser zu errichten – davon wäre auch die Matthäikirche betroffen gewesen. Dies lehnten Leipzigs Stadtoberen ab.

Zweiter Weltkrieg und danach
Dann der Schicksalsschlag: Beim Bombenangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 wurde das eindrucksvolle Kirchenbauwerk – Gesamtlänge 49 Meter, Ost- und Westgiebel jeweils 22 Meter, Dachhöhe 35 Meter, Dachreiter 57 Meter – schwer beschädigt. Phoenix ward zu Asche.

Wie wohl jede andere Kirchgemeinde mit demselben Schicksal wünschten sich die Christen dort das Wiedererstehen ihrer Kirche – als erneuter Phoenix aus der Asche. Doch es blieb ein frommer Wunsch.

Für die nun SED-gelenkte Stadt Leipzig als Grundstücks-Eigentümerin kam die weitere kirchliche Nutzung nicht infrage – die starke Beschädigung kam dabei durchaus gelegen – und schuf mit dem Kirchen-Abriss in der Zeit der Sowjetischen Besatzungszone Fakten. Der Standort wurde Brachfläche.

Die Matthäikirche diente jahrhundertelang bis zum Abschieds-Gottesdienst am 1. August 1948 Generationen von Leipzigern regelmäßig zur Andacht sowie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten als Stätte festlicher Begegnung. Sie war vertrauter, heimatlicher Treffpunkt für Taufe und Konfirmation, für Trauung, Silberne und Goldene Hochzeit und für den Heimgang Hunderter Bürger. Sie war Ort der Gemeinsamkeit für Andacht und Hoffnung, für Zuversicht und Freude, für Trauer und Leid.

Kein vierter Phoenix
Um 1953 gab es auf dem Grundstück archäologische Untersuchungen. Später überließ die Stadt das einstige Areal des Klosters und der Kirche den Neubauten der Bezirksverwaltung Leipzig des Ministeriums für Staatssicherheit (Kürzel: MfS, im Volksmund „Memphis“ und „Stasi“ genannt).

Der DDR-Gebäudekomplex steht bis heute. Es gibt verschiedene Vorstellungen zur künftigen Nutzung des Geländes – der vierte Aufstieg von Leipzigs dreifachem Phoenix gehört nicht dazu.

Fazit
Das Aus für die Matthäikirche 1948 war – nach der Sprengung der kriegsbeschädigten Erlöserkirche Leipzig im Juni 1945 – der Auftakt für weitere politisch veranlasste Auslösch-Aktionen von Kirchengebäuden in Leipzig: Johanniskirche (Kirchenschiff 1949 gesprengt, Kirchturm 1963), 1954 Trinitatiskirche, 1958 Andreaskirche, 1968 Universitätskirche St. Pauli (Paulinerkirche) und 1978 Markuskirche.

Im Matthäikirchhof erinnert seit Dezember 1998 das Denkmal von Leipzigs Künstler Matthias Klemm an die Kirche mit den vier Namen.

Koordinaten: 51° 20′ 29″ N, 12° 22′ 16″ O

Nächste Folge: Georgenkirche Berlin

Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Matth%C3%A4ikirche_(Leipzig)

Autor:

Holger Zürch

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