Legenden
Vom Bischof Nikolaus
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Man erzählt in jenen abgelegenen Tälern Lykiens, dass Nikolaus von Myra in einem Jahr unsäglicher geistiger Erschlaffung zu jenem Mittel griff, das jeder vernünftige Mensch längst hätte ergreifen müssen. Die Politiker der Provinz, die ohnehin schon einen Ruf hatten, der dem Geruch alten ranzigen Öls vergessener Lagerhäuser entsprach, überboten sich damals in einer Form der Dummheit, vor der selbst die Schafe erschraken. Man beschloss Dinge, deren Konsequenzen niemand bedacht hatte, man schwafelte in den Amtsstuben, als wäre Reden eine Art maschinell erzeugter Nebel, der zwar alles einhüllte, aber nichts erhellte.
Nikolaus, dem dieses Getöse zu Kopf stieg wie zu warm gewordener Wein, forderte sie schließlich alle in die Bischofshalle. Er stellte sie vor sich hin, diese elende Versammlung von Amtsinhabern, die schon mit dem ersten Satz ihres Mundes bewiesen, dass der zweite keinen Sinn mehr ergeben würde. Man weiß, dass Nikolaus nicht laut geworden ist. Er war ein Mann der ruhigen Unerbittlichkeit. Er legte ihnen schweigend eine ausgeblichene Rolle des Organon vor, so alt, dass sie beim Öffnen knisterte wie ein dürrer Zweig. Und dann sagte er, in jenem Ton, der keinen Widerspruch zulässt: „Erst wer denkt, darf entscheiden.“
Die Herren – von denen keiner je einen kohärenten Gedanken zu Papier gebracht hatte – standen da wie Schüler, die plötzlich bemerken, dass der Lehrer wirklich unterrichtet. Nikolaus ließ sie nicht hinaus, bevor sie wenigstens den modus ponens auswendig konnten. Wochenlang roch die Stadt nach Aristoteles, nach Schweiß und Eitelkeit, nach argumentativer Not, denn die Politiker mussten täglich antreten und zeigen, ob sie einen Satz ohne Selbstwiderspruch zustande brachten. Und Nikolaus – man beschreibt es immer wieder – saß schweigend wie ein geduldiger Stein in der Apsis seiner Bischofskirche und hörte zu, mit einer Geduld, die schon fast masochistisch war. Er soll damals eine kleine Text-Sammlung hinterlassen haben - eine Art späte aber heilige Brosamen, die das Volk bis heute als Nikolaianische Moos-Sprüche bezeichnet, weil sie kleben bleiben wie Moos an einem feuchten Felsen:
„Der Mensch irrt. Der Politiker irrt laut.“
„Wer nicht denken kann, soll wenigstens langsam reden.“
„Einer, der das Wesentliche verliert, verliert alles.“
„Ein Satz ist wie ein Brot: Wenn es hohl klingt, taugt es nicht.“
Und es gibt drei weitere, die man ihm zuschreibt, so rätselhaft wie das Wetter am Mittelmeer im Winter:
1. „Ein Mann fragt: Was soll ich tun? Nikolaus antwortet: Zuerst hören, dann hören, dann erst tun.“
2. „Ein Stadthalter behauptet: Ich habe keine Zeit zum Denken. Nikolaus: Darum hast du keine Zeit.“
3. „Ein Redner prahlt mit vielen Worten. Nikolaus: Ich höre nur deinen Atem, aber keinen Sinn.“
Es heißt, nach einem halben Jahr dieses tyrannischen Trainings sei die Politik Myras so still geworden wie ein Klosterhof nach der Komplet. Entscheidungen wurden aufgeschoben, bis sie verstanden waren. Manch ein Amtsträger sei aus reiner Überforderung davongelaufen, andere hätten angefangen, ernsthaft zu studieren. Die Bürger – die zuerst spotteten – bemerkten plötzlich, dass die öffentlichen Beschlüsse Sinn ergaben, ein damals völlig unerhörter Zustand. Und wenn man heute in der Gegend bei Myra einen besonders klaren Satz hört, irgendeine unbestechlich einfache Wahrheit, dann sagen die Alten:
„Das ist vom Bischof.”
Autor:Matthias Schollmeyer |
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