Nikolaus
DER NAME - DER TRAUM

Theophila Eirene (Mutter des heiligen Nikolaus)

Man erzählt in den alten Häusern von Patara auch, dass die Mutter des künftigen Bischofs in einer Nacht tiefer Erschöpfung jenen Traum empfing, der dem Kind seinen Namen geben sollte. Das Kind war noch ungeboren, und die Zukunft der Stadt ungewiss. Als römische Provinz litt die Gegend unter Willkür und kleinlicher Amtsgier, und das Volk – das Laos – suchte nach Orientierung, die ihm bisher niemand gewährte. In jener Nacht aber erblickte die Frau im Traum einen Engel, der nicht in blendendem Licht erschien, sondern in der Stille einer Halle, wie man sie aus den Bädern kannte. Kühl, gewölbt, ein Raum, in dem die Stimmen gedämpft und zugleich mit einem Echo belohnt werden - und so die Gedanken klarer hervortreten lässt.

Der Engel sprach nur zwei Worte: Nikan und Laos. Siegen und Volk. Die beiden Worte wirkten wie zwei Funken, die sich im Inneren des mütterlichen Herzens zu etwas Größerem verbanden. Nikan – siegen, durchtragen, überwinden. Laos – das Volk, jedoch nicht im politischen Sinn der ewig lärmenden Menge, sondern jenes Volk, das Gott aus der Zerstreuung sammelt. Am Morgen wusste die Mutter: Das Kind sollte „Nikolaos“ heißen. Nicht als Triumphruf über andere, sondern als Erinnerung daran, dass Gott selbst sein Volk durch die Zeit trägt und ihm den Sieg der Treue schenkt.

In der Legende heißt es, die Mutter habe diesen Traum mit einer Klarheit geschildert, die selbst die skeptischen Nachbarn verstummen ließ. Ihr Kind, so sagte sie, werde einmal einer sein, der nicht herrscht, sondern trägt; nicht mit Schwert und Dekret, sondern mit einem Herz, das in Gott verankert ist. So ging der Name des Nikolaus in die Welt: nicht als Ehrentitel, sondern als Programm. Das Volk siegt - das ist die Bedeutung bis heute. Doch dieses „Volk“ ist nicht die Masse, die ruft und immer nur fordert.

Wir fügen der alten Legende erklärend hinzu: Es ist ein Irrtum, wenn Menschen in den Straßen „Wir sind das Volk“ brüllen und meinen, damit die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Solches Rufen hat etwas Trotziges, etwas vom Lärm des Marktes, vom Missverständnis der Menschen, die sich selbst zum Maßstab erheben und jedes Maß längst verloren haben. Der Ruf „Wir sind das Volk” entsteht aus dem Bauch, aber nicht aus dem Herzen - noch weniger aus dem Geist. Er trägt nur Protest in sich, aber hat keine bleibende Verheißung.

Das Volk, von dem der Name des Heiligen spricht, ist ein anderes: jenes, das Gott sich sammelt, indem er es verwandelt. Das Volk siegt – das heißt nicht, dass der Lautere über den Lauten triumphiert. Es heißt, dass der Mensch dort Stärke empfängt, wo er sich in die Wahrheit stellt, wo er sich führen lässt und nicht sich selbst gegen andere erhebt. In diesem Sinn wurde Nikolaus zu einer Ikone: ein Mann, der mit unbeirrbarer Güte das Volk Gottes sichtbar machen sollte – nicht im Getöse, sondern im Vertrauen auf auf die Wirkmächtigkeit der Wahrheit.

So bleibe die spätantike Legende auch uns als Gleichnis: Der Name, den die Mutter im Traum empfing, wird zum Programm einer stillen, aber durchdringenden Hoffnung. Die Welt der Spätantike, mit ihren bröckelnden Säulen und den bereits schief stehenden Statuen vergessener Amtsträger, - sie sah äußerlich längst ihrem Untergang entgegen. Doch das Kind, dessen Name vom Traum der Mutter herrührt, lässt mitten im Untergang etwas aufleuchten, das jede Epoche braucht. Ein Sieg, der nicht aus dummem Lärm entsteht, sondern aus einer Wahrheit, die der Mensch nicht macht, sondern empfängt.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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